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Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi

Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi

Titel: Männer schweigen: Ein Sylt-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ehley
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Hauptkommissar spannt alle Muskeln an. In dieser Sekunde ist er dankbar für jede einzelne Trainingsstunde im Fitnesscenter. Ohne eine präzise Körperbeherrschung wäre er längst verloren. Und während jenseits des Hindenburgdammes die letzten Zipfel der Insel verschwinden und jetzt nur noch die sanften Wellen des Wattenmeeres gegen den Damm plätschern, verlagert Bastian Kreuzer ganz langsam sein Gewicht auf die rechte Seite, krallt die Hand vollends in das Metallgitter, bemüht sich sehr, den stechenden Schmerz, der seine Finger durchfährt, mit Missachtung zu strafen, und löst einen Finger der linken Hand nach dem anderen vom Boden. Ein Zittern durchfährt seinen Arm, krampfartig zucken die Gelenke. Wenn er jetzt nicht schnell zugreifen kann, dann ist das das Ende. Schon schwindet die Kraft in Bastians rechter Hand, schon lockert sich sein Griff. Das rechte Bein rutscht unversehens über die Außenkante des Waggons und schlackert plötzlich im Fahrtwind wie ein schlappes Tuch. Ein tiefer Schrei löst sich aus Bastians Kehle und hallt über Watt und Schlick, das harmlos im Sonnenlicht glänzt. Einzelne Vögel fliegen auf, als habe der Ton ihre Abendruhe gestört. Lichtblitze, Schmerzblitze zucken an Bastians Augen vorbei, er weiß, er kann sich nur noch wenige Sekunden halten.
    Mit letzter Kraft wirft er die Schulter zur Seite und greift nach hinten. Sein Handgelenk schlägt gegen Metall, der Schmerz reißt ein Loch in Bastians Wahrnehmung, er hat zu weit gegriffen, die Hand schließt sich ins Leere.
    Das war es jetzt endgültig, denkt Bastian, und schon spürt er, wie er nach draußen rutscht, jetzt hängt die Hüfte fast auf der Kante, das Gleichgewicht verschiebt sich eindeutig zu Ungunsten der noch auf dem Waggon liegenden Körperhälfte. Da greift seine linke Hand noch einmal zu, bekommt aber wieder nichts zu fassen. Ein drittes Mal tastet sie in der Luft, greift wieder … ins Leere? … Nein, jetzt hat seine Hand ein kantiges Metallrohr umschlossen.
    Bastian will den linken Arm beugen, um sich näher an die Verstrebung zu ziehen. Doch alles zittert an seinem Körper, er wird es nicht schaffen, niemals, aber ein letztes Mal noch wird er es versuchen, er muss sich nur anstrengen, nur noch dieses eine Mal konzentrieren.
    Das Rauschen und Rattern des Zuges erfüllt sein Hirn bis in den letzten Winkel. VERGISS ES – VERGISS ES – VERGISS ES skandieren die Räder.
    Aber Bastian hört nicht auf sie.
    Er denkt an Silja, an ihre Haare im Wind, ihr lachendes Gesicht in der Sonne, ihr leises Murmeln, bevor sie einschläft. Und jetzt gehorchen die Muskeln und Sehnen Bastians verzweifeltem Befehl, der Ellenbogen beugt sich und der Körper des Hauptkommissars rutscht zentimeterweise zurück auf das Metallgitter. Jetzt kann er sogar schon das rechte Bein wieder einsetzen, um sich abzustützen. Vorsichtig löst Bastian Kreuzer nun seine stark blutende rechte Hand vom Fußbodengitter, hebt den Arm und legt ihn zusätzlich um den Pfeiler.
    Sein Gleichgewicht ist wieder hergestellt.
    Plötzlich wird ihm klar, dass der Zug während seiner Rettungsaktion sehr viel langsamer geworden ist. In wenigen Sekunden wird er ganz zum Stehen gekommen sein.
    »Sind Sie irre, Mann?« Der Einweiser, der sich am übernächsten Pfeiler festgeklammert hatte, läuft zu Bastian herüber und greift energisch nach dem Kragen seiner Lederjacke, als wolle er ihn noch nachträglich festhalten. »Ich konnte zwar ziemlich schnell die Notbremse ziehen«, er deutet auf einen der roten Griffe, die in größeren Abständen an den Seiten angebracht worden sind, »aber bis so ein Zug anhält, das dauert. Und wenn Sie vorher von Bord gegangen wären, dann wär’s das für Sie gewesen. Ist Ihnen das eigentlich klar?«
    »Habe ich so ausgesehen, als hätte ich daran gezweifelt?«, gibt Bastian zurück. »Danke für Ihre Warnung jedenfalls. Es hätte mich sonst völlig unvorbereitet aus der Kurve geworfen. Aber ich glaube, Sie haben sich die längste Zeit um mich sorgen müssen. Jetzt steht der Zug ja, und wir können in Ruhe nach dem Wagen suchen.«
    Der Bahnangestellte tippt sich an die Stirn und erklärt humorlos: »Sie bewegen sich hier keinen Millimeter von der Stelle.« Dann klopft er gegen die Tür des Wagens, neben dem sie kauern. Es ist ein Passat älteren Baujahrs, in dem ein ziemlich verschrecktes Rentnerehepaar sitzt. Vorsichtig öffnet die Beifahrerin die Tür.
    »Mein Mann wollte ja aussteigen und helfen, aber ich habe gesagt, du fällst da

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