Magnus Jonson 02 - Wut
sah er Jóis Vater mit einem Boot auf den See hinausrudern, im Bug einen großen Sack. In der Mitte des Sees legte er die Ruder ein. Unter heftigem Fluchen hievte er den schweren Sack über Bord.
Arnór kehrte zurück nach Hause. Sein Vater war von einem Ausritt in die nächste Stadt noch nicht zurückgekommen. Als er die ganze Nacht ausblieb, schlug seine Mutter Alarm. Nie wieder wurde Arnórs Vater gesehen, nie wieder hörte man von ihm. Man vermutete, er sei nach Amerika geflohen, aber wenn das stimmte,
schickte er zumindest nie eine Nachricht nach Island. Und Arnór erzählte niemandem, was er gesehen hatte.
Magnus schloss das Buch. »Jesus Christ« , sagte er auf Englisch.
Unnur hatte behauptet, dass Hallgríms Vater Gunnar den Vater von Benedikt umgebracht hatte, Jóhannes, den Bauern von Hraun. Wenn diese Episode im Roman jenes Ereignis schilderte, dann waren Benedikt und Hallgrím die beiden kleinen Jungen, und die Leiche von Jóhannes lag in einem See in der Nähe, entweder im Schweinesee oder in dem kleinen See daneben, dem Hraunsfjarðarvatn.
Magnus hatte nie etwas davon gehört, dass ein Nachbar ermordet worden war oder überhaupt verschwand. Wenn das jedoch in der Kindheit seines Großvaters geschehen war, musste es sich in den dreißiger Jahren zugetragen haben. Genauso wenig hatte er etwas über einen Schriftsteller aus der Umgebung gewusst; während Magnus’ vierjährigem Aufenthalt in den Achtzigern hatte es dort auf jeden Fall niemanden gegeben. Aber Benedikt konnte ja ohne weiteres lange zuvor fortgezogen sein.
Ingileif unterbrach ihr Spiel. Ihr war Magnus’ perplexer Gesichtsausdruck aufgefallen.
»Was liest du da?«, fragte sie.
Magnus hielt ihr das Cover hin.
»Ah, das kenne ich. Ist nicht schlecht. Ich mag ihn.«
»Bis jetzt habe ich noch nichts von ihm gelesen.«
»Er ist ganz gut. Ein bisschen wie Steinbeck, wenn auch nicht
von derselben Qualität. Ich glaube, ich kenne die meisten Bücher von ihm. Woher das plötzliche Interesse? Und warum hast du ›Jesus Christ‹ gesagt?«
Magnus erzählte Ingileif von seinem Besuch bei Unnur. Er hatte ein gewisses Schuldgefühl, es vorher nicht erwähnt zu haben, doch sie schien es zu verstehen. Magnus war ihr dankbar, weil sie nicht auf dem herumritt, was Unnur über die Affäre mit seinem Vater verraten hatte.
»An das Kapitel kann ich mich erinnern«, sagte Ingileif. »Diese
Frau glaubt also, dass der Mann, der Benedikts Vater umgebracht hat, dein Urgroßvater war?«
»Genau. Er hieß Gunnar.«
»Hast du ihn kennengelernt? Lebte er noch, als du in Bjarnarhöfn warst?«
»Nein, da war er schon lange tot. Ich weiß nicht besonders viel über ihn. Nur wie er gestorben ist.«
»Und zwar wie?«
»Kennst du Kap Búlandshöfði?«
»Das ist irgendwo auf der Halbinsel Snæfells, oder? Ich war aber noch nie da.«
»Stimmt. Ist nicht sehr weit entfernt vom Gehöft meines Großvaters. Búlandshöfði gehört zu den Orten, über die es eine Menge Legenden und Sagen gibt. Die Straße von Grundarfjörður nach Ólafsvík verläuft am Rand von Búlandshöfði entlang. Früher war sie sehr schmal, sie ist immer noch ganz schön beängstigend, zumindest war sie’s in den achtziger Jahren. Mein Urgroßvater rutschte offenbar aus und fiel herunter. Er saß auf einem Pferd.«
»Aber niemand hat dir erzählt, dass man vermutete, er habe jemanden erschlagen?«
»Nein. Andererseits hätten meine Großeltern es mir auch kaum gesagt. Wie du weißt, lebte ich ab dem dreizehnten Lebensjahr bei meinem Vater, und der sprach nie über die Familie meiner Mutter. Weißt du irgendwas über diesen Benedikt Jóhannesson?«
»Ein bisschen. Er schrieb hauptsächlich in den Sechzigern und Siebzigern. Ich meine, das da wäre eines seiner letzten Bücher gewesen.«
Magnus schaute im Impressum nach. »Es ist von 1985.«
»Siehst du. Er muss irgendwann zu der Zeit gestorben sein. Ich glaube, er wurde sogar ermordet. Nein, ich bin mir sicher. Warte, wir googeln ihn mal.«
Ingileif griff zu ihrem Laptop, und nach kurzem Suchen lasen sie den isländischen Wikipedia-Eintrag über Benedikt Jóhannesson. 1926 geboren, 1985 gestorben. Wuchs auf einem Bauernhof
auf der Halbinsel Snæfells auf. Studierte Isländisch an der Universität von Island und lebte in Reykjavík. Er veröffentlichte ein Dutzend Romane, der letzte war Das Moor und der Mann , dazu mehrere Sammlungen von Kurzgeschichten.
»Die sind echt gut«, sagte Ingileif. »Ich meine, die sind besser als die
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