McDermid, Val
Claire kauerte sich zusammen, schlang die Arme um die
Knie und zog sie an die Brust. Aber Tony streckte die Beine aus und kreuzte sie
an den Fußgelenken. Er ließ seine Hände auf den Schoß fallen, eine offene
Körperhaltung, die ihm alles Drohende nahm. Jetzt konnte er deutlich die
Schatten unter ihren Augen sehen und die Haut an ihren Fingernägeln, die blutig
abgekaut war. »Ich weiß, wie sehr du Jen magst«, sagte er. »Mir ist klar, dass
sie dir die ganze Zeit fehlt. Wir können nichts tun, um sie zurückzubringen,
aber wir können die Situation für ihre Mutter und ihren Vater ein bisschen
besser machen, wenn wir die Person finden, die das getan hat.«
Claire schluckte. »Ich weiß.
Ich denke immer daran, was sie getan hätte, wenn es andersherum wäre. Sie hätte
meiner Mutter und meinem Vater helfen wollen. Aber mir fällt nichts ein. Das
ist das Problem.« Sie war bedrückt. »Es gibt nichts zu erzählen.«
»Das ist okay«, versicherte er
sanft. »Nichts von alledem ist deine Schuld, Claire. Und niemand wird dir
Vorwürfe machen, wenn wir den Mann nicht finden, der Jen entführt hat. Ich
will nur mit dir reden. Vielleicht kannst du mir helfen, Jen etwas besser zu
verstehen.«
»Wie kann das helfen?«
Natürliche Neugier überwand ihre Angst.
»Ich bin Profiler. Die Leute
verstehen nicht richtig, was ich mache, sie meinen, es hat etwas mit
Geschichten im Fernsehen zu tun. Aber im Grunde ist es meine Aufgabe herauszufinden,
wie Jen mit diesem Menschen in Kontakt kam und wie sie reagiert hat. Dann muss ich
herausarbeiten, was mir das über ihn verrät.«
»Und dann helfen Sie der
Polizei, ihn zu fangen?« Er nickte, und ein schiefes Lächeln huschte über sein
Gesicht. »Das ist im Großen und Ganzen die Idee dahinter. Also, wofür
interessierte sich Jennifer denn?«
Er lehnte sich zurück und
hörte sich eine Liste von Teenie-Musik, Mode, Fernsehsendungen und Promis an.
Er hörte, dass Jennifer im Allgemeinen tat, was man ihr sagte, Hausaufgaben
gewissenhaft erledigte, pünktlich nach Haus kam, wenn sie abends ausging.
Hauptsächlich weil es Claire und Jennifer nie eingefallen war, dass sie es
anders machen könnten. Sie führten ein behütetes Leben in ihrer exklusiven
Mädchenschule, wurden von den Eltern chauffiert und lebten in einem Umfeld, in
dem sie mit rebellischen Mädchen nichts zu tun hatten. Die Zeit verstrich, und
Tonys entspanntes Fragen half Claire, endlich lockerer zu werden.
Jetzt konnte er gründlicher
nachforschen. »Wie du das schilderst, klingt es fast ein bisschen zu perfekt«,
meinte er. »Ist sie niemals auch ein bisschen ausgeflippt? Hat sich mal
betrunken? Drogen probiert? Wollte ein Tattoo haben? Sich den Nabel piercen
lassen? Mit Jungs rummachen?« Claire kicherte, dann schlug sie die Hand vor den
Mund, weil sie sich schämte, so unbeschwert zu sein. »Sie müssen uns für
wirklich langweilig halten«, sagte sie. »Wir haben tatsächlich unsere Ohren
piercen lassen, in dem Sommer, als wir zwölf waren. Unsere Mütter sind
ausgerastet. Aber wir durften die Ohrlöcher behalten.«
»Habt ihr euch nicht mal spät
nachts zu nem Konzert rausgeschlichen? Kein Rauchen hinterm Fahrradstand?
Hatte Jen eigentlich einen Freund?«
Claire warf ihm einen
schnellen Seitenblick zu, schwieg aber. »Ich weiß, alle sagen, dass sie mit
niemandem zusammen ist. Aber das kann ich kaum glauben. Ein nettes Mädchen, mit
dem man gern zusammen ist. Und hübsch. Und ich soll glauben, dass sie keinen
Freund hat.« Mit den Handflächen nach oben breitete spreizte er die Finger. »Da
musst du mir helfen, Claire.«
»Sie hat mich versprechen
lassen ...«, begann Claire. »Ich weiß. Aber sie wird nicht darauf bestehen,
dass du dich an das Versprechen hältst. Du hast ja selbst gesagt, wenn es
andersherum wäre, würdest du wollen, dass sie uns hilft.«
»Es war kein richtiger Freund.
Nicht mit Dates und so. Aber es gab diesen Typ bei Rig. ZeeZee nannte er sich.
Nur die Buchstaben. Zweimal Z.«
»Wir wissen, dass sie auf Rig mit
ZZ sprach, aber sie schienen nur befreundet zu sein. Nicht wie ein Paar.«
»Sie wollten, dass alle das
denken. Jen hatte Angst, ihre Eltern könnten etwas über ihn erfahren, weil er
vier Jahre älter ist als wir. Deshalb ging sie oft ins Internetcafé bei der
Schule und unterhielt sich mit ihm online. So konnte ihre Mutter sie nicht
kontrollieren. Nach dem, was Jen erzählte, kamen sie wirklich gut miteinander
aus. Sie sagte, sie wollten sich treffen.«
»Hat sie dir
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