McJesus
er etwas hätte vererben können. Seine Frau und seine beiden Kinder waren vor ihm gestorben. Er hatte keine Geschwister, keine Verwandten, keine alten Freunde. Irgendwo in Arkansas lebte ein Enkel, der sich jedoch einen Teufel um den alten Mann scherte. Mr. Smith, dessen Leben so alltäglich war wie sein Name, war völlig allein, wäre da nicht eine Frau gewesen, die etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte.
Schwester Peg war eine geborene Peggy Morgan. Sie wuchs in einer zufriedenen Mittelklassefamilie im kalifornischen San Bernardino auf. Ihr Vater war ein freundlicher stiller Mann, der eine kleine Zulieferfirma für Elektroartikel besaß. Ihre Mutter machte die Buchhaltung. Peg war das einzige Kind und eine erstklassige Schülerin. Sie ging zur Sonntagsschule, und ein paar Mal im Jahr begleitete sie eine Freundin in die katholische Kirche, weil ihr die bunten Glasfenster so gefielen.
In dem Frühjahr, als Peg das erste Jahr auf der Highschool war, wurde bei ihrem Vater Krebs diagnostiziert. Peg verbrachte jeden Tag dieses Sommers im Krankenhaus bei ihrem Vater und las ihm vor, während er zusehends verfiel. Die Behandlung war teuer, und sie mussten das Geschäft verkaufen, um die Krankenhausrechnungen zu bezahlen. Trotz aller Bemühungen der Ärzte starb Mr. Morgan Anfang September.
Nun saß Schwester Peg um drei Uhr morgens im Care Center am Bett von Mr. Smith. Sie hielt seine kraftlose, fleckige Hand, aber sie dachte an ihren Vater. Mr. Smith’ Puls war in den letzten Tagen immer schwächer geworden. Schwester Peg wusste, dass er bald sterben würde. Seine trüben Augen starrten zur Decke. Er konnte nicht blinzeln und er konnte nicht weinen, obwohl er beides gern getan hätte. Er fuhr sich mit der ledrigen Zunge über die Lippen und flüsterte: »Es ist kalt.«
Schwester Peg hatte ihn bereits mit drei schweren Wolldecken zugedeckt. Nun zog sie ihm die obere bis ans Kinn und stopfte sie sanft unter das Kopfkissen. »So«, sagte sie, »so ist es besser.« Ihre Stimme klang angenehm und beruhigend. Sie legte die Hand auf seine Stirn; dann strich sie ihm über die eingefallene Wange. Sie wollte ihn wissen lassen, dass jemand da war, dass sich jemand um ihn kümmerte.
Im Haus herrschte überall Ruhe. Die Kinder schliefen, und die Polizeihubschrauber flogen über anderen Teilen des Valley Streife. Schwester Peg nahm das Buch vom Fußende des Betts und rückte die trübe Lampe näher heran. Sie beugte sich nah zu Mr. Smith’ Ohr, damit er sie hören konnte. »Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob«, begann sie. »Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse.«
Trotz seiner Blindheit sah Mr. Smith das Ende herannahen. Er begann zu zittern, nicht wegen der Bibelworte, sondern im Todeskampf, als sich seine letzten Atemzüge durch die verschleimte Luftröhre quälten.
Schwester Peg blickte auf Mr. Smith’ Leiche und hoffte, dass sie ihm das Gefühl gegeben hatte, in Würde zu sterben. Sie ahnte, wie schrecklich es war, so allein zu sein in einer so schrecklichen Welt. Und als Mr. Smith ihre Hand losließ, fragte sie sich, ob das wirklich schon alles war.
3
»Sie hat vergessen, ihre Medizin zu nehmen«, sagte Dan. » R echtlich ist sie für ihre Taten nicht verantwortlich, oder?«
Die Polizistin, die am Schreibtisch vor ihrem Computer saß, blickte auf. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wenn Ihre Mutter nicht zurechnungsfähig ist, hat sie keine Probleme.«
Dan atmete erleichtert auf. »Gut«, sagte er. »Vielen Dank.«
»Natürlich muss jemand für den Schaden aufkommen«, sagte die Polizistin. »Und ich nehme mal an, das werden Sie sein.« Sie lächelte und nahm ihre Arbeit wieder auf.
Beim Verhör sagte Ruth, sie habe nur die Flugzeuge am Van Nuys Airport starten und landen sehen wollen. Weil vom Altenheim niemand sie hinbringen wollte, beschloss sie, allein hinzugehen, aber nach einer Meile oder so sei sie müde geworden. Da habe sie den Sattelschlepper mit dem laufenden Motor gesehen. Als Nächstes erinnerte sie sich nur noch, dass das Ding dreißig Meilen in der Stunde fuhr und sie es nicht anhalten konnte. »Es tut mir Leid, wenn ich Probleme gemacht habe«, sagte sie.
Trotzdem geriet Ruth in die Mühlen der Justiz. Sie musste mit mehreren Anklagen rechnen wegen böswilliger Täuschung, schweren Diebstahls, Fahrerflucht, um nur einige zu nennen. Bevor diese Anklagen erhoben werden konnten, musste sie sich einer Überprüfung ihrer Zurechnungsfähigkeit unterziehen.
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