Meagan McKinney
hinüber und überlegte, ob sie an den beiden
Wachen vorbeikommen konnte, die dort
postiert
waren. Tatsächlich hatten sie kein Recht,
sie hier
festzuhalten. Sie konnte von Rollins die Goldstücke verlangen, an den Wachen
durch das Tor marschieren
und einfach weitergehen. Ihre Augen verfinsterten
sich. Dem Marshal würde es wohl kaum gefallen, wenn sie ginge, ohne ihm vorher
über die Entführung berichtet zu haben. Mit der Kavallerie im Rücken würde er
sie innerhalb weniger Minuten zurückholen. Und dann würden sie wissen wollen,
warum sie so dringend fort wollte. Sie würde nur noch zwei Möglichkeiten haben:
Entweder sie verweigerte die Antwort und nahm in Kauf, daB sie mißtrauisch
wurden und vielleicht sogar die Wahrheit über die Narbe in ihrer Hand
herausfanden (was sie als weitaus angenehmere Möglichkeit empfand). Oder sie
log und behauptete, sie wäre von den Outlaws so entsetzlich mißbraucht worden, daB jeder Mann ihr Angst machte, und daß sie möglichst
weit von so vielen aus i diesem Geschlecht fort gewollt hatte. Der Marshal
könnte ihr die Geschichte durchaus abnehmen, aber Cain würde wissen, daß sie
log. Und sein Mißtrauen wäre für sie schlimmer als das der ganzen Kavallerie,
die gerade auf dem Exerzierplatz Stellung einnahm.
Sie holte
tief Atem und fuhr sich mit einer zitternden Hand durchs Haar. Sich vom Gesetz
umzingelt zu sehen, ließ ihren schlimmsten Alptraum wahrwerden. Schlimmer war
nur noch, Baldwin Didier direkt gegenüberzutreten. Hoffentlich kam die Kutsche
bald. Auch wenn ihr Herz bei dem Gedanken zu zerspringen drohte.
Macaulay
Cain. Macaulay Cain. Der Name hallte in ihrem Kopf wider. Am liebsten hätte sie
niemals mehr an ihn gedacht. Bevor sie gerettet worden war, j hatte es schon
keine Perspektive für sie beide gegeben. Aber nun war alles noch schlimmer
geworden. Ein Klopfen an der Tür riß sie aus ihren finsteren Grübeleien. Sie
zog die Schultern ihres verblichenen Kleides
wieder hoch und war peinlich berührt, daB ihre Brüste immer wieder unter ihrem
Hemdchen hervorlugten, wenn das schlechtsitzende Kleid verrutschte.
Wieder
erklang das Klopfen, diesmal drängender, und die Angst ließ ihr Herz aussetzen.
Sie war plötzlich überzeugt von dem unsinnigen Gedanken, daß man ihre
Vergangenheit entdeckt hatte, doch dann gewann ihr Verstand wieder Überhand,
als sie erkannte, daß es unwahrscheinlich war. Sie drehte ihr Haar mit einer Hand,
aber weil sie es nicht hochstecken konnte, warf sie es über eine Schulter und
öffnete dann die Tür.
Ihr Herz
blieb fast stehen. Vor der Tür stand Cain, der nun sehr anders aussah, als der
Mann, den sie kennengelernt hatte. Er hatte sich rasiert, und sein starkes Kinn
war nun ganz von dem Bart befreit. Sie mußte erkennen, daß er noch viel besser
aussah, als sie vermutet hatte. Doch er war immer noch Macaulay Cain, die
harte Linie des Mundes und seine eisigen Augen waren unverändert – und
unverändert hypnotisierend.
Sie
betrachtete seine restliche Gestalt. Er hatte gebadet und etwas kultivierte
Kleidung angezogen. Nun trug er dunkle Hosen, ein weißes Hemd und eine burgunderfarbene
Seidenweste. Sein Haar war zurückgekämmt und duftete nach Piment. Wenn sie
sich schon von ihm als Outlaw hatte angezogen gefühlt, so war diese Kraft jetzt
noch stärker. Er war glattrasiert und wirkte zurückhaltend, und diese Haltung
stand ihm gut. Die Gefahr, die von ihm ausging, war nun nur noch
unterschwellig zu spüren, aber nichtdestoweniger anziehend und betäubend, so
wie ein Flüstern erotischer ist als ein lautes Rufen.
»Ich
erkenne dich kaum wieder«, sagte sie langsam und vorsichtig.
Seine
Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln hoch. So wie er nun aussah, hätte er gut
einer von den Spielern sein können, die in die Saloons kamen, in denen sie gearbeitet
hatte, um ihr ergaunertes Vermögen auszugeben – oder zu mehren.
Sie hatte diese Glücksritter als mächtige und gewalttätige Männer erlebt, die
vor allem durch ihr Aussehen gewannen. Sie besaßen eine enorme Anziehungskraft,
und sie hatte sich stets bemüht, ihnen aus dem Weg zu gehen, doch allesamt
verblaßten sie neben Macaulay Cain.
Sie trat
von der Tür zurück, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Sie sah ihn nicht an,
sie bat ihn nicht einzutreten. Sie wußte, er würde eintreten, wenn er es
wollte, ob sie es ihm erlaubte oder nicht.
»Das Kleid
ist zu groß«, bemerkte er, während er die Tür hinter sich schloß.
Sie zog die
verblichene Seide fester um ihren
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