Meeres-Braut
Okra das Boot hatte und Mela den Weg wußte. Okra warf das Boot wieder ins Wasser zurück, und sie setzten sich in Bewegung. Okra ruderte kräftig, da sie während der kurzen Pause wieder etwas Kraft geschöpft hatte, und fühlte sich sehr ermutigt, daß nun jemand dabei war, der ihr den Weg zeigen konnte.
Mela sagte etwas, doch Okra konnte sie wegen des Ruderlärms nicht verstehen. Als ihre Gedanken aber schließlich ihrer Bahn zu Ende gefolgt waren, bemerkte sie etwas anderes: Der Himmel verdunkelte sich. Brach die Nacht schon wieder ein? Nein, es war eine große, dicke Wolke, die sich anschickte, über ihnen abzuregnen. Nun, ein wenig Regen würde schon keinen Schaden anrichten, solange er nicht das Boot ausfüllte. Vielleicht wäre es ja besser, an Land zu gehen und das Gewitter auszusitzen, da sie im Sturm ohnehin nicht weit kommen würden.
Sie hielt mit dem Rudern inne. »Meinst du, wir sollten…?« fragte sie.
»Zu spät!« rief Mela. Eine Windböe suchte sich genau diesen Augenblick aus, um ihr das Haar durchs Gesicht zu wehen. »Fracto hat uns den Rückzug abgeschnitten.«
»Fracto?«
»König Fracto Cumulo Nimbus, die schlimmste aller Wolken. Der macht immer Ärger.«
»Aber Oger mögen Ärger!«
»Kannst du schwimmen?«
»Nein.«
»Dann wird dir Fractos Art von Ärger bestimmt nicht gefallen.«
Da war etwas dran. Okra versuchte das Boot zu wenden und zum Ufer zurückzurudern, doch der Wind plusterte sich gewaltig auf und trieb sie in die entgegengesetzte Richtung. Nun sah sie, daß die Wolke einen riesigen, nebligen Mund geformt hatte und sie anblies. Der Wind peitschte die Wogen, die sich nun zu wahren Gebirgen auftürmten.
Da begann der Regen. Erst ein paar Tröpfchen, dann schüttete es nur so herab. »Iiiieeehh!« kreischte Mela und zog die nackten Beine an. »Süßwasser!«
»Was ist denn daran verkehrt?«
»Ich bin ein Salzwasserwesen. Süßwasser verdirbt mir die Schwanzflosse.«
»Aber du trägst doch gerade Beine.«
»Ich weiß nicht, wie man mit Beinen schwimmt. Außerdem verdirbt es mir auch die Haut.« Tatsächlich wurde ihre Haut überall fleckig, wo das Regenwasser auf sie traf.
Okra versuchte mit den Händen Wasser aus dem Boot zu schöpfen, doch es prasselte zu schnell hernieder. Da packte sie lieber wieder ihre Ruder. »Vielleicht kommen wir ja irgendwohin«, meinte sie.
Mela blickte zweifelnd drein, doch wenn sie etwas sagen wollte, ging es im Geheul des Windes und im Donnern der Gischt unter. Okra sah eine riesige Woge kommen, die sie unter sich ertränken wollte, doch es gelang ihr, das Boot weit genug vorwärts zu manövrieren, um ihr zu entgehen; nachdem sich das Boot etwas ausgeschaukelt hatte, konnten sie sogar ein Stück auf dem Wellenkamm reiten. Wellen ließen sich handhaben. Sie waren wie Drachen, nämlich gar nicht so übel, wenn man sie nur im Auge behielt und stets von hinten anging.
Doch es wurde noch schlimmer. Wassermassen schlugen über ihnen zusammen, so daß Mela laut genug aufkreischte, um selbst im Sturmgetöse noch vernommen zu werden, und füllten das Boot immer schneller. Okra konnte nicht mehr rudern, sie mußte Wasser schöpfen. Deshalb zog sie die Ruder ein und begann, das Wasser mit beiden Händen zu eimern. In hohen Fontänen spritzte es heraus, und der Wasserpegel im Boot sank ab, was sie tatsächlich vor dem Kentern bewahrte. Doch das bedeutete im Gegenzug, daß sie nun hilflos den gnadenlosen Winden und Wellen ausgeliefert waren. Zu allem Überfluß mußte Okra auch noch spüren, wie sich ein Asthmaanfall näherte: Die Anstrengung, der Wind und die Nässe verklebten ihr den Atem. Und das Asthma lauerte stets auf die schlimmstmögliche Gelegenheit, um zuzuschlagen.
Dann kam die schrecklichste Welle von allen auf sie zu. Es riß sie empor und schleuderte sie in atemberaubender Geschwindigkeit in die Dunkelheit hinaus. Es blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als sich festzuhalten. Jetzt nutzte keine Widerrede mehr etwas, sie waren dazu verurteilt, sich von der Welle willkürlich irgendwohin befördern zu lassen.
Das Boot krachte auf einen sandigen Felsbrocken. Es überschlug sich, spie sie hervor. Das Wasser zog sich wieder zurück, und nun saßen sie hoch oben und völlig durchnäßt da. Mela war zusammengekauert und zitterte, und selbst Okra war es etwas kühl. Das war wirklich ein übler Sturm gewesen, doch immerhin hatten sie es an Land geschafft.
Der Sturm zog nun weiter und ließ nur noch ein wenig befriedigtes Gepolter zurück.
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