Melli - einmal blinzeln und von vorn
ideale Gelegenheit war, ein wenig an Ricardas Vollkommenheit zu rütteln. Auch ohne Mellis Hilfe sah sie momentan nicht gerade perfekt aus. Mitten in einer Drehbewegung war sie erstarrt, ihr Gesicht wirkte leicht verschoben, als hätte die obere Hälfte die Drehung schon abgeschlossen, der Kiefer allerdings noch nicht.
Melli stellte sich direkt vor Ricarda und studierte sie eingehend. Von wegen makellos. War das nicht ein kleines Pickelchen da neben der Nase? Allerdings war sie gut geschminkt, sodass es kaum auffiel. Und ihr Mund war groà wie ein Scheunentor. Nicht gerade grazil. Melli überlegte kurz. Sie knöpfte Ricardas Cardigan-Jäckchen schief und wuschelte durch ihre dunkle Lockenmähne. Doch mit dem Ergebnis war sie keinesfalls zufrieden. Jetzt sah Ricarda verwegen und verführerisch aus. Melli zupfte noch hier und da an der Kleidung, aber auch das reichte nicht, um Ricarda zu entzaubern. Dann hatte Melli den Einfall des Jahrhunderts. Langsam nahm sie ihr das Notenblatt aus der erstarrten Hand und tauschte es mit den Chortexten aus. Es kostete sie einige Mühe, die verkrampften Finger zu lösen. Und jetzt wohin mit den richtigen Noten? Melli flitzte zurück in die Chorreihen und steckte Adine das Papier zu, als sie einen leichten Schwindel fühlte.
»Das war zum Schreien komisch«, sagte Pia gerade zu Lora, als Melli wie aus einer Trance erwachte. Anscheinend hatten sie sich wieder versöhnt und hechelten auf dem Heimweg munter die Musicalprobe durch. Moment, Heimweg? Melli kniff verwundert die Augen zusammen. Eben waren sie noch in der Probe gewesen. Die Eiszeit, Ricardas verkrampfte Finger, die ausgetauschten Noten ⦠Warum stand sie jetzt hier und wartete mit Pia und Lora auf den Bus? Und was bitte war zum Schreien gewesen, was hatte sie verpasst?
»Wie findest denn du das, Melli? Ich meine, wie kommt Ricarda dazu, plötzlich eine Passage aus dem Chor zu singen. Sie war völlig durcheinander und Herr Wender, der ist fast ausgerastet! Und als Adine noch anfing, Ricardas Part zu übernehmen, ich dachte echt, der bekommt einen Herzkasper.«
»Ja, äh, das war voll komisch«. Melli grinste angestrengt. Wieso wusste sie nichts davon? Hatte sie einen Blackout gehabt? Unauffällig kniff sie sich in die Hand. Autsch, also wach war sie auf jeden Fall.
»Auf keinen Fall kann Adine Ricky das Wasser reichen. Die krächzt wie eine erkältete Elster! Sie sieht vielleicht toll aus und kann tanzen, aber das reicht eben nicht. AuÃerdem würde Leon Adine niemals so anschauen wie Ricky, dann wäre der ganze Zauber dahin und ehrlich, ich glaube, er würde seine Rolle hinwerfen, wenn Ricky rausfliegt.«
Ricky. Ricky. Ricky.
»Das ist doch gar nicht das Thema. Ricarda bleibt. Ich frage mich nur, warum sie so durcheinander war«, sagte Pia.
»Vielleicht hat sie eine Energy-Drink-Vergiftung. Sie lebt ja förmlich von dem Zeug«, warf Melli ein, um auch einen Beitrag zu leisten.
»Jedenfalls hat sich Adine gar nichts dabei gedacht. Jemand hat ihr die falschen Noten in die Hand gedrückt, weiter nichts.«
»Ha ha«, machte Lora und warf Melli einen nachdenklichen Blick zu. »Wirklich, total logisch.«
Melli wand sich unbehaglich. Uiuiui, da war ganz schön was los gewesen bei der Probe. Und sie hatte es einfach verpasst. Als hätte die Zeit einen Sprung nach vorne gemacht. Flupp, wie abgeschossenes Gummiband: erst langsam gedehnt, dann losgeschnappt. Oder hatte sie schlichtweg eine Art Sekundenschlaf gehabt? Ihre Mutter hatte mal von einem Nachbarn erzählt, der bei einem Sekundenschlaf auf der Autobahn einen Unfall verursacht hatte. Bei ihr musste es sich aber wohl eher um einen Minuten- oder sogar Stundenschlaf gehandelt haben. Aber die anderen schienen nichts bemerkt zu haben. Was, bitte, war hier jetzt wieder gelaufen?
Kapitel 9
M elli, deine Mutter ist am Telefon!«, rief Kira aus der Küche quer durch den Hausflur nach oben.
»Was? Warum ruft sie mich nicht auf Skype an?«
»Keine Ahnung, hoffnungslos altmodisch eben. Jetzt komm schon, beeil dich, mein Chili brennt an!«
Melli polterte durch das Treppenhaus und hatte Glück, mit heilen Knochen unten anzukommen.
»Mam? Hast du schon mal was von Internet gehört?«, rief sie anstelle einer BegrüÃung ins Telefon, aber ehrlich, sie freute sich riesig, dass ihre Mutter sich meldete. Ursprünglich hatte Pam jeden Tag bei ihr anrufen
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