Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Scholle Land im Nichts.
Wie bei einem Eisberg ragte diese schroffe Insel mindestens so weit nach unten, wie die unterschiedlichen Türme und Paläste nach oben strebten. Und etwas abseits davon trieb in dieser scheinbar grenzenlosen Leere das Innenleben von Mighdal-qodheschim. Es war ein mehr als merkwürdiger Anblick, ein so riesiges Bauwerk ohne Außenhülle zu sehen: Die mit Bücherregalen und sonstigen Einrichtungsgegenständen angefüllten Räume und die schier endlose Wendeltreppe türmten sich, scheinbar haltlos, einem leeren Himmel entgegen.
Aus irgendeinem Grund hatten die Sirilim – anders als bei ihrer Schiffsflotte und dem Knochenpalast – als Zuflucht eine Falte gewählt, in der es nichts anderes zu geben schien als ihre Stadt und die bloßgelegten Eingeweide ihres Turmes der Heiligen. Streng genommen konnte das natürlich nicht stimmen. Auch Sirilim brauchten Luft und Licht und einiges mehr zum Leben.
Nun war es aber keineswegs dunkel in Saphira. Im Gegenteil machte sie ihrem Namen, der ja »die Glänzende« bedeutete, alle Ehre. Ein Schleier aus sanftem hellen Licht lag auf den Dächern und Parks und ließ alles auf eine zauberhafte Weise erstrahlen. Woher diese Illumination kam, blieb Ergil hingegen verborgen.
Sein Geist schwebte über die nun schon bekannten Straßen und Plätze hinweg, als säße er in seinem Luftschiff. Es schien den Sirilim, sofern man das aus der Höhe überhaupt beurteilen konnte, an nichts zu mangeln. Sie gingen offenbar ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Überall konnte Ergil sie beobachten, manche gingen zu Fuß, etliche ritten auf Krodibos, und einige fuhren auf Wagen, deren organisches Aussehen die Vermutung nahe legte, hier eine andere Zuchtform der Wandellinge oder Zimmermannsschoten vor sich zu haben.
Er kehrte zu einer Ansammlung weißer Gebäude unweit von Mighdal-qodheschim zurück. Das musste der Königspalast sein. Im Zentrum der Anlage ragte ein großer silberner Kegel auf, dessen Windungen an ein spitzes Schneckenhaus erinnerten. Scheinbar willkürlich waren farbige Fenster unterschiedlicher Größe in die Außenmauer eingelassen, als habe jemand großzügig bunte Juwelen darüber verstreut. Ergil drang in das Bauwerk ein.
Sein Geist wanderte keineswegs ziellos durch den riesigen Bau. Obwohl die kostbaren Inneneinrichtungen oder die fremdartigen Gewänder der Bewohner dieser Residenz ihn unentwegt zum Verweilen und Staunen einluden, konzentrierte er sich auf seine Suche. So folgte er den Windungen des Palasts, immer weiter ging es nach oben. Irgendwann stieß er auf einen Raum, in dem Musiker sonderbar geformten Instrumenten bestrickende Töne entlockten, durchdrang eine weitere Wand und entdeckte endlich den Thronsaal, eine runde Halle in der Spitze der »Schnecke«. Vielfarbige Kristallfenster erschufen ein zauberhaftes Licht. Die in Silber, Gold und Elfenbein schimmernden Wände zeigten Blumenmotive. Ein geländerloser Wandelgang schraubte sich bis unter die gläserne Spitzkuppel empor. Im unteren Bereich des Höhenwegs lagen mehrere Durchgänge. Der größte weckte Ergils Interesse.
Er schwebte durch den Rundbogen in einen nicht sehr langen Gang, dessen Wände mit Lampen aus Halbedelsteinen beleuchtet waren. Am Ende befand sich eine mit kunstvollem Schnitzwerk verzierte Tür aus gelblich rotem Holz. Zwei Wachen standen davor. Ergil glitt zwischen ihnen hindurch.
Hinter der Tür lag eine Landschaft aus dicken Teppichen und Kissen, die entfernt den Nomadenzelten von Bulanenfürsten ähnelte. Der Grundriss des Raumes war allerdings so unregelmäßig wie ein Höhlenboden. Bunte Tücher, teils von Licht durchströmt, hingen an den Wänden, und von der Decke baumelten allerlei goldene und silberne Gefäße, deren Zweck sich Ergil nur in wenigen Fällen erschloss: Aus einer an Ketten aufgehängten Schale stieg Weihrauch auf; in einem Käfig mit offen stehender Tür trällerte ein schillernder Vogel und mehrere glitzernde Gehäuse waren wie Laternen geformt.
Sein Blick wandte sich nach links, von wo aus sich eine Flut farbigen Lichts durch ein anderes, augenförmiges Fenster in den Raum ergoss. Davor ruhte, halb auf dem Teppich sitzend, halb auf Kissen liegend, ein Sirilo und las in einem Buch. Sein rechtes Bein war angezogen, das linke ausgestreckt. Er trug weite Hosen und eine Tunika, beides aus tiefroter Seide mit Goldverzierungen. Die Füße waren nackt.
Der Lesende hatte halblanges, sonnengelbes Haar. Sein ebenmäßiges Gesicht war glatt rasiert
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