Mondlaeufer
noch verbergen wollte. Sein Vater würde es sicher herausfinden. Als Kind hatte Pol Rohan immer als Ursprung alles Wissens und aller Weisheit angesehen. Nichts hatte ihn je von diesem Gedanken abgebracht. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Rohan einen Fehler machte.
Doch Pol dachte jetzt, er selbst hätte einen gemacht, als er eine Gestalt durch den Hof zur Seitentür eilen sah. Im Sternenlicht erkannte er ein unförmiges, dunkles Gewand und einen fransigen Schal. Überrascht sah er genauer hin. Was machte ein Dienstmädchen um diese Zeit draußen, wozu verließ sie das Haus? Ihm fiel die einfachste Erklärung ein: ein Liebhaber. Er zuckte mit den Schultern. Doch dann blieb das Mädchen plötzlich stehen und sah direkt zu Pol hoch.
Durch die zerbrochene Scheibe kam ein leiser, scharfer Windzug. Pol wich zurück, doch sein Blick hing an dem sternenbeleuchteten Gesicht der Frau, das ihm zugewandt war. Kein Mädchengesicht, das Gesicht einer Frau. Profil, Brauen und Mund waren gleich. Doch es war das Gesicht einer erwachsenen Frau von fünfzig Wintern, wahrscheinlich sogar mehr. Sie lächelte; und das Lachen, das vorher in ihren Augen gestanden hatte, malte einen bösen, spöttischen Ausdruck auf ihre Lippen und ihre hochgezogenen Brauen.
Dann zog sie das Tuch über den Kopf und verschmolz mit den Schatten. Sie eilte durch die Seitentür in den nachtschwarzen Wald. Pol erschauerte und wandte sich tief beunruhigt ab.
»Was ist los?«, fragte Rohan leise. Er setzte sich im Bett auf, und sein helles Haar schimmerte im Sternenlicht.
»Nichts.« Pol versuchte zu lächeln. »Vielleicht hat Meath recht, und ich bin wirklich zu jung für so viel Wein.«
Mireva erreichte den Baum am Bach, wo sie ihre Kleider zurückgelassen hatte, und warf jene ab, die sie von einer Wäscheleine auf Gut Rezeld gestohlen hatte. Die Aufregung wärmte ihre Wangen und ihren Körper; sie spürte nichts von der Kälte der Nacht, als sie sich umzog.
Das also war der kleine Prinz Pol, dachte sie. Ein fesselndes Gesicht wie das seines Vaters, doch es strahlte mehr als nur die Macht eines Prinzen aus. Auch mehr als Lichtläufer-Macht. Mireva lachte laut, als sie ihr Haar aus dem festen Zopf löste und wild den Kopf schüttelte.
Das Gefühl, in seiner Nähe unter ihresgleichen zu sein, war untrüglich gewesen. Sie kannte es von Ianthes drei Söhnen und von allen anderen, in deren Adern Diarmadhi -Blut floss. Doch während sie bei Ruval, Marron und Segev wusste, dass ihre Macht von Prinzessin Lallante stammte, war ihr nicht klar, von welchen Vorfahren Pol sein Talent geerbt hatte. Sioneds Vorfahren ließen sich väterlicherseits leicht bis zur Invasion der Faradhi auf dem Kontinent zurückverfolgen; da gab es nichts. Von den Verwandten mütterlicherseits war nichts bekannt, außer dass eine Lichtläuferin den Prinzen von Kierst geheiratet hatte. Vielleicht hatte Pol sein doppeltes Talent von ihr.
Doch dann war da noch Rohan. Auch seine Vorfahren väterlicherseits standen außer Zweifel – doch die seiner Mutter Milar, die ja auch die von Andrade waren … Mireva knotete ihr Hemd um die Taille und grinste dabei. Es wäre der Gipfel der Ironie, wenn die Herrin der Schule der Göttin selbst Diarmadhi wäre!
Doch dann wurde sie nüchterner. Von wem sie auch kam, diese zweite Macht war ein neuer Gesichtspunkt, und vielleicht sogar ein gefährlicher. Schon ein Lichtläufer war schlimm genug, doch damit konnte Mireva fertig werden. Dass in Pol auch das Erbe ihrer eigenen Macht angelegt war, eröffnete zahlreiche neue Möglichkeiten.
Sie machte sich auf den langen Rückweg zu ihrem Haus und überlegte, was sie tun sollte. Sie hatte nicht vorgehabt, Pol schon in dieser Nacht zu töten, ihm ein Gift zu verabreichen oder seinen Verstand oder Körper irgendwie zu beeinflussen. Sie hatte bloß einen Blick auf ihn werfen wollen, um einzuschätzen, was für ein Mann er einmal sein würde. Er hatte viel von seinem Vater, nicht nur das Aussehen und die Haltung, sondern auch den klaren, klugen und neugierigen Blick, mit dem er sie angesehen hatte. Nein, sie war nicht gekommen, um ihn zu töten, hatte nicht dafür die Illusion eines jungen Mädchens um sich gelegt – und dann abgeworfen, als sie wusste, dass er zusah. Sein Gesicht mit eigenen Augen zu sehen, sich einen Eindruck von seiner Faradhi -Stärke zu verschaffen und ihn zu verunsichern: das hatte sie bezweckt. Sein Tod konnte noch ein paar Jahre warten.
Doch dass er Diarmadhi war, warf ein
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