Monrepos oder die Kaelte der Macht
Maße als hilflos.
Um ordnungsgemäß Vater zu werden, bedurfte es offenbar eines mehrwöchigen Spezialkurses, in dem all die lebenspraktischen Dinge gelehrt wurden, die er bisher beiseite geschoben hatte. Vom Kinderwagenkauf bis zur Änderung der Steuerklasse. Vor allem benötigte man Zeit, unglaublich viel Zeit. Die aber hatte er weniger denn je.
Die Zusammenarbeit mit der Tendvall-Stiftung weitete sich aus. Wohl wahr, es gab unangenehmere Lasten. Tom Wiener hatte – wahrscheinlich schon an jenem Abend im Vier Jahreszeiten – mit Dr. Gerstäcker eine Vereinbarung getroffen, wonach er und Gundelach der Stiftung als wissenschaftliche Berater verbunden sein sollten. Auch die Honorare hatte er ausgehandelt. Dank dieser unverhofften Einnahmequelle konnte Gundelach daran denken, eine größere Wohnung in einem Vorort der Landeshauptstadt anzumieten. Nach langem Umherrennen fanden sie eine geräumige Vierzimmerwohnung in ruhiger Lage, mit einem großen Balkon und Obstbäumen hinterm Haus. Heike schwelgte im Glück. Einziehen konnten sie allerdings erst im September. Aber man besaß jetzt immerhin eine Perspektive.
Mindestens einmal im Monat reiste Gundelach fortan nach Norden, um Sören Tendvall bei der Abfassung neuer Schriften zur Bevölkerungsentwicklung, zum Wohnungsbau und zur globalen Abrüstung behilflich zu sein. Nie hatte Gundelach reinere, idealistischere Visionen angetroffen als die des zerbrechlichen Greises; nie aber auch einen größeren Ehrgeiz, vor den strengen Kriterien der Wissenschaft bestehen zu können. Er liebte den fast schon körperlosen Enthusiasmus, mit dem sich Sören Tendvall seiner Berufung hingab. Das Tragische an dem verzweifelten Bemühen des alten, reichen Mannes empfand er freilich auch: Im Geistigen, welches ihm zeitlebens mehr bedeutet hatte als sein Vermögen, wollte er überdauern.
Auch die gemeinsamen Projekte der Staatskanzlei und der Stiftung nahmen immer umfangreichere Formen an. Tom Wiener war die treibende Kraft dabei. Wie sich herausstellte, hatte er die Sache mit der publizistischen Kooperation und den internationalen Symposien durchaus ernst gemeint. Sein Drang, den Ministerpräsidenten endgültig im elitären Kreis des deutschen Gelehrtenadels zu etablieren, war ungebrochen. Im Nu war der Beschluß gefaßt, Reden, Aufsätze und Monografien von Oskar Specht in einer Schriftenreihe fortlaufend zu publizieren. Titel: Heute und morgen .
Durchforsten Sie mal Ihre Reden, forderte Wiener seinen Mitarbeiter auf. Für Band eins wählten sie ein kulturphilosophisches Thema. Es wies Oskar Specht als engagierten Karl Popper-Fan aus. Sören Tendvall bestand darauf, im zweiten Band zu Wort zu kommen – am liebsten mit seinen globalen Bevölkerungsrichtlinien. Rundheraus abschlagen konnte man ihm den Wunsch nicht; schließlich bezahlte er alles. Aber Specht durfte als Mitherausgeber auch keinen unkalkulierbaren politischen Risiken ausgesetzt werden. Man beschloß, ein eigenes Diskussionsforum für die Probleme der Dritten Welt zu schaffen. Jedes Jahr im Herbst sollten sich Fachleute in einer norddeutschen Kleinstadt versammeln, um über Strategien gegen die Bevölkerungsexplosion zu beraten. Oskar Specht konnte dabei als Gastredner auftreten.
Die Wahl fiel auf Eutin. Zu aller Erleichterung willigte Sören Tendvall ein. Er hatte sich schon immer gern in Eutin aufgehalten.
Specht ließ sich über die Vorgänge gelegentlich berichten und versah sie mit amüsierten Anmerkungen. Was da in oder unter seinem Namen geschrieben wurde, interessierte ihn wenig. Bücher las er meist im Urlaub. Hatte ihn jedoch ein Werk fasziniert, machte er es nach der Rückkehr aus den Ferien umgehend seinem Kabinett und den leitenden Beamten zur Pflichtlektüre. So auch 1980, als er begeistert von einer Neuerscheinung berichtete, die man unbedingt gelesen haben mußte: Alvin Toffler, ›Die Zukunftschance‹. Die Ablösung der Industriegesellschaft durch ein High-Tech-Schlaraffenland. Der visionäre Wälzer wurde für geraume Zeit seine Bibel; Toffler sein Prophet, den er unablässig im Munde führte.
Jeder Minister bekam das Buch zugeschickt und wußte, daß es ratsam war, zumindest das Inhaltsverzeichnis zu überfliegen, um informiert zu erscheinen.
Gundelach las es ganz. Es gefiel ihm gut – am besten der Titel.
Ein Junge, es ist ein Junge!
Die Stimme, die ihn da aus der Telefonmuschel ansprang, hart und ungeduldig, schien mit begriffsstutzigen Vätern Erfahrung zu haben. In den elementaren
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