Monrepos oder die Kaelte der Macht
zu charakterisieren, an ihre Referenten weiterreichten. ›Mosaiktechnik‹ nannten es die Herausgeber – eine Tarnbezeichnung für literarische Arbeitsteilung, die, fand Gundelach, zu merken sich lohnte. Sie klang nach Kunst und Mühsal und versprach doch rasche Resultate.
Mit diesen, seine Person und sein Wirken umkreisenden Projekten war Spechts Veröffentlichungsdrang fürs erste gestillt. Das Buch über ›High culture‹ wurde einvernehmlich auf spätere Zeiten verschoben. Es entstand nie, was Gundelach sich stets als Verdienst anrechnete. Je länger er mit Specht zusammenarbeitete, um so mehr kam er zur Überzeugung, daß es wichtiger war, Überspanntheiten zu bremsen, als in den Chor derer, die sie bejubelten, einzustimmen.
Im Juni starb Sören Tendvall.
Fast achtundachtzig war er geworden und zuletzt nur noch ein winziges, skelettiertes Menschenkind gewesen, dessen Geist sich schon zwischen den Zweigen seiner geliebten Parkbäume verflüchtigt hatte. In deren Wurzelwerk wünschte er verewigt zu werden, an einem nur durch einen granitgrauen Findling bezeichneten Fleck.
Trotzdem war die halbe Stadt auf den Beinen, als der Sarg in der Marienkirche aufgebahrt wurde.
Wiener und Gundelach nahmen am Trauergottesdienst teil. Specht hatte sich entschuldigen lassen.
Sie sangen: Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren! und folgten unsicher der Liturgie. Klein unter dem hohen Kreuzgewölbe der Kirche stand der Sarg, und noch kleiner ruhte darin, was von Sören Tendvalls Erdentagen übrig geblieben. Gundelach hätte gerne gewußt, wie es jetzt um Tendvalls große, dunkle Augen bestellt war; Augen, die immer etwas mehr und durch die Menschen hindurch zu sehen schienen, bis sie zum Schluß ermattet waren von der Mühe, das störend Leibliche vor der Vision hinwegzublicken.
Ja, so isser, sagte Tom Wiener halblaut.
Wer? flüsterte Gundelach.
Er. Oskar.
Wieso? fragte Gundelach, dem die Erwähnung Spechts in diesem Augenblick, da alle Andacht dem Toten gebührte, unpassend erschien.
Heute hätte er doch wenigstens hier sein können, sagte Wiener und verwandte wenig Mühe darauf, die Stimme zu dämpfen. Das wäre doch das mindeste gewesen nach allem, was Sören Tendvall für ihn getan hat.
Naja, murmelte Gundelach. Schon, ja –. Aber nach dem Kladderadatsch der letzten Tage …
Die Seitenblicke der Nebensitzer auf der Kirchenbank genierten ihn.
Ach was, entgegnete Wiener laut und bestimmt. Oskar wär auch nicht gekommen, wenn er zu Hause in Filzpantoffeln rumsäße. Hat jemand ausgedient, interessiert er nicht mehr.
Pssst! sagte Gundelach und war froh, sich erheben und des Pastors Aufforderung zum Gebet folgen zu können.
Sie beteten: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Kaum saßen sie, fing Wiener wieder an.
Wenn man’s zusammenzählt, sind es Hunderttausende, die Tendvall für ihn lockergemacht hat. Alles dafür, daß Specht jetzt dort steht, wo er ist.
Er sieht das wahrscheinlich anders, erwiderte Gundelach tonlos.
Er sieht gar nichts, sagte Wiener. Er sieht nur sich.
Wir haben uns zuletzt auch nicht mehr um Tendvall gekümmert, wandte Gundelach ein.
Aber wir sind hier und nehmen Abschied von ihm. Darum geht es. Um ein Minimum an Menschlichkeit und Anstand.
Wiener wollte in seinen Betrachtungen fortfahren, doch ein scharf gezischtes: Ganz recht, meine Herren, ganz recht!, dessen Urheber, ein älterer Herr in schwarzem Anzug, erbost den Kopf nach ihnen wandte, ließ ihn verstummen.
Sie beendeten die Zeremonie schweigend und trennten sich vor dem Kirchenportal.
Wiener war mit Dr. Gerstäcker verabredet. Gundelach durchquerte ziellos die Straßen. Die Erinnerung an Sören Tendvall lastete auf ihm. Erinnerung, die eine Nicht-Erinnerung an die letzten Monate war, in denen man ihm bedeutet hatte, daß weitere Besuche angesichts des raschen Verfalls des Moribunden zwecklos wären. Nur zu bereitwillig hatte er es akzeptiert: keine quälenden Sitzungen mehr, kein Feilschen um Programme und Texte, kein Vorspiegeln eines politischen Interesses, das über Eigennutz hinausreichte.
Doch jetzt, da er an den alten Patrizierhäusern emporblickte, die alle den stolzen, störrischen Geist überlebter Geschichte in sich trugen, wurde ihm bewußt, daß er Sören Tendvalls adeliges Menschsein vermißte. Und daß er mit dem Vorwurf leben mußte, im Unwahren vom ihm geschieden zu sein.
In der Ratsstraße wäre er fast mit einem schwarzgekleideten Mann zusammengestoßen, den er, um Entschuldigung
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