Mordsonate
zum Gruß ein klein wenig seine rechte Hand und entfernte sich mit schnellen Schritten in Richtung Kaigasse.
Gerlinde blieb verwirrt stehen, bevor sie langsam zum Salzachufer spazierte, um sich eine freie Bank zu suchen. Obwohl neben ihnen noch Platz gewesen wäre, ging sie an den knutschenden Jugendlichen vorbei, da sie eine seltsame Scheu davor hatte, sich neben ein Liebespaar zu setzen. Da mehrere Bänke von erschöpften Touristen dicht besetzt waren, fand sie nur noch neben der Obdachlosen Platz, die ihre prall gefüllten Einkaufstaschen fest an ihren Körper gepresst hatte und in ein angeregtes Selbstgespräch vertieft war. Gerlinde setzte sich an den äußersten Rand der Bank, um Abstand zu der Frau zu halten, die vielleicht gar nicht viel älter war als sie selbst.
So vieles ging ihr durch den Kopf. Aber immer wiederlandete sie bei derselben Überlegung: Hans Weger hatte seinen Aufstieg dem Grund ihres Aufstiegs zu verdanken, ihrem Geheimnis! Aber könnte er ihr dann überhaupt schaden, wenn er selbst doch auch … das wäre ihm dann wohl egal. Aber der Mann … Hans … ist er überhaupt noch zurechnungsfähig, so wie sie ihn gerade erlebt hatte? Würde er nicht schon bald in der Christian-Doppler-Klinik landen?
Während die Obdachlose neben ihr in einem fort halblaut mit sich selbst redete, erfasste Gerlinde Angst: Es ging doch nicht nur um den Posten allein … ihr Geheimnis könnte ganz andere Folgen für sie haben, immerhin … sie hätte ihre Beobachtung bei der Polizei machen müssen und nicht vor dem Landesparteiobmann! Sie hatte sich, um ehrlich zu sein, dieses Geheimnis doch selber immer kleingeredet … Für sie war es nur ihr kleines Geheimnis gewesen … dabei … es war ein Mensch gestorben! Sie hätte den Unfall nicht verhindern können, aber die Hinterbliebenen des Opfers, die wären doch ganz anders ausgestiegen, wenn … Gerlinde war heiß. Sie öffnete den Kragen ihrer Bluse, so weit es ihr vertretbar schien, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sie erkannte jetzt ganz deutlich das Unrecht, in das sie verwickelt war. Und das sie bisher immer verdrängt hatte – natürlich des großen Vorteils wegen, den sie aus ihrem Verhalten gezogen hatte. Und weil doch die christlichsoziale Parteispitze auch nichts Anrüchiges an dem Angebot gefunden hatte, das man Gerlinde Brunner schon zwei Stunden nach der Unterredung gemacht hatte. Und vor allem hatte sie sich ab dem ersten Tag auf ihrem neuen Posten rundum bewährt. Sie leistete gute Arbeit. Damit hatte sie sich bisher auch beruhigt. Sie erschlich sich ihr gutes Gehalt nicht … nur bekam man so einen Posten indiesem Bereich in Salzburg ausschließlich über eine Partei … und wie viele Leute – nicht zuletzt die Wegers, die Gutensohns – verdienten noch viel mehr als sie, ohne auch nur eine nennenswerte Gegenleistung dafür zu erbringen. Bei denen war es doch wirklich so, wie in der ENAG gewitzelt wurde: Je weniger sie tun, desto kleiner der Schaden für das Unternehmen.
Wie oft hatte sie sich all das schon gesagt, und wie oft war es ihr damit gelungen, ihr Gewissen zu beruhigen. Aber jetzt stand diese andere Schuld riesengroß vor ihr: die Lage der Hinterbliebenen des unschuldig zu Tode gekommenen Familienvaters. Es war im Prozess die Alkoholisierung des Lenkers nie zur Debatte gestanden, nachdem man diese unglaubliche Sache eingefädelt hatte, über die Weisung an die Polizei. Eher gelte die Vermutung, dass der Radfahrer unvermittelt zu weit auf die Fahrbahn hinausgekommen sei …
Gerlinde spürte, wie ihre Panik zunahm. Sie atmete jetzt laut durch den Mund. Nein, sie würde doch nicht jetzt auf dieser Bank einen … Herzanfall … Während sie tief atmete, starrte sie geradeaus, sah die Böschung hinunter auf das Wasser der Salzach, die träge dahinfloss.
»Wie bitte?«, hauchte sie und wandte sich halb zu der verwahrlosten Frau, die trotz des frühsommerlich warmen Wetters in einem abgetragenen Wintermantel auf der Bank saß. Gerlinde war vorgekommen, ihre Sitznachbarin hätte sie angesprochen. Doch die Frau beachtete sie gar nicht, ihr Selbstgespräch wurde nur von Hustenanfällen unterbrochen. »Haaaaa!«, sagte sie gerade, als Gerlinde sich zu ihr drehte. »Einen einzelnen Finger … so etwas muss man erst einmal finden! Haaa! Wer vergisst schon seinen Finger am Bahnhof …« Die Frau lachte ein heiseres Lachen, das ihren gesamten Oberkörper durchschüttelte.Während sie noch lachte, begann sie in ihren Taschen zu wühlen,
Weitere Kostenlose Bücher