Muttergefuehle
harmlosen Liebesbeweis ein gefühlter Kontrollverlust wird. Wenn mein Kind die zehnte Nacht auf meinem tauben Arm einschläft, bin ich nicht mehr verliebt, sondern nur noch unzufrieden. Am nächsten Morgen liege ich in einer Position, die ich vorher nur beim chinesischen Staatszirkus gesehen habe, damit das Kind noch eine halbe Stunde weiterschlummert und nicht gleich losbrüllt. Dabei könnte ich selbst ausflippen!
Vor meinem Kind habe ich Mütter belächelt, die sich so zur Sklavin ihres Kindes haben machen lassen. Für diese Überheblichkeit schäme ich mich inzwischen sehr, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, wie schnell das mit dem Rücksichtsteufel gehen kann. Da kriegt der Sohn eine schlimme Grippe, Zähne oder die Wut, und schon ist es passiert. Er gewöhnt sich an Sonderbehandlungen, mit denen ich ihn erst voller Liebe (Phase eins) und dann ein bisschen widerwillig (Phase zwei) verwöhne.
Schließlich kommt Phase drei. Ich werde wütend und furchtbar unzufrieden, weil ich überhaupt nicht mehr machen will, was mein Kind inzwischen wie selbstverständlich einfordert: Ich sitze in seinem Zimmer auf einem winzigen Stuhl und gucke ihm beim Malen zu, dabei halte ich ihm, orthopädisch unerfreulich, meinen Kopf entgegen, damit er bequem in meinen Haaren drehen kann. Darüber hinaus verzichte ich auf Telefonate, um seinen Wutanfall zu vermeiden, wenn er nicht mit dem Handy spielen darf.
Es ist schrecklich. Mein Kind hat die Kontrolle übernommen, und zwar nicht nur über meine Zeit und meinen Körper, sondern auch über meine sozialen Kontakte. Ich fühle mich, als wäre mir mein Leben für immer entglitten. Der Rücksichtsteufel, der mich in dieser Phase immer bepöbelt, findet das auch: »Wie armselig, schwach und peinlich. Du lässt dir von einem Einjährigen so auf der Nase rumtanzen! Wie soll denn das noch werden? Du allein bist schuld, wenn dein Kind ein Arschloch wird.« Die Stimmung ist auf unbestimmte Zeit, gern auch länger, vergiftet.
Leider ist diese Zeit der Unzufriedenheit so notwendig wie überflüssig: Irgendwann habe ich nämlich die Schnauze so voll, dass ich schlagartig über die nötige Entschlossenheit sowie Konsequenz verfüge, die Situation nach meinen Vorstellungen zu ändern. Dann mache ich alles so, wie ICH es will, und mir ist egal, dass das Kind kurzfristig zu Captain Amok mutiert, weil ich es wage, mich so hinzulegen, dass es für MICH bequem ist. Ich bin wieder der Chef. Ich habe alles im Griff. Zumindest so lange, bis sich der Rücksichtsteufel das nächste Mal reinschleicht.
Wie ich mit dem Rücksichtsteufel umgehe:
• Ich sage mir immer wieder: Es ist nur eine Phase.
• Ich sage mir immer wieder: Der Punkt, an dem ich mir die Kontrolle zurückhole, kommt automatisch. Deshalb versuche ich, in Phase drei so wenig unzufrieden wie möglich zu sein. Wenn mir das nicht gelingt (meistens), sage ich mir wieder, dass der Punkt, an dem ich mir die Kontrolle zurückhole, automatisch kommt.
• Ich spreche mit anderen Müttern. Besser und hilfreicher als alle Ratgeber zusammen sind nämlich andere Mütter, die sagen, dass es ihnen auch immer wieder so geht.
Was stimmt denn jetzt?
Die Unsicherheit, weil jeder Ratgeber einen anderen Rat gibt.
Ist er warm genug angezogen? Kriegt er beim Stillen genug Milch? Was muss er in seinem Alter alles können? Warum kriegt er vorn keine Haare? Verdammt, ICH WEISS ES NICHT ! Als mein Kind auf die Welt kam, war ich das erste Mal in meinem Leben wirklich komplett ahnungs-, hilf- und ratlos und habe mir von ganzem Herzen einen Menschen gewünscht, der mir sagt, was ich zu tun habe. Ich wollte eine Gebrauchsanweisung für diesen kleinen Menschen, ich wollte einen Plan, nach dem ich vorgehen konnte, weil ich selbst überhaupt keinen davon hatte, wie man mit Babys umgeht. Also suchte ich nach Büchern, in deren Titeln Worte wie »Baby« in Verbindung mit »warum«, »wie«, »Antworten« oder »Hilfe« vorkamen. Leider kam mit den meisten dieser Bücher nicht die Erleuchtung, sondern gleich die nächste Katastrophe: Ich war im Seifenblasen-niedlich-Land. Alle Babys hatten Fingerchen und Füßlein, schliefen in kleinen Bettchen, natürlich ohne Deckchen, dafür aber in einem süßen, kuscheligen Schlafsäckchen in gemütlichem Schlummerlicht. Die Mütter in diesen Büchern waren debil grinsende Untote, die niemals schlafen mussten und jeden noch so beschissenen Zustand mit Fassung und Dankbarkeit ertrugen. Vom Wasser in den Beinen über den Dammriss
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