Nach alter Sitte
Gerda hatte viele Talente. Sie konnte wunderbar malen und zeichnen, wollte zuerst Kunst studieren, entschied sich dann aber für Archäologie und Kunstgeschichte.«
»Aber dieses Bild zeigt mehr als Talent«, warf Neuendorf ein. »Hier ist eine profunde Ausbildung zu erkennen.«
»Ich hatte nie Ahnung von Kunst«, meinte Lorenz. »Und ich weiß auch nicht genau, was Gerda in Berlin während ihres Studiums alles tat. Eigentlich weiß ich gar nichts von ihr, aus dieser Zeit, die ihr letzter Lebensabschnitt war.«
Bärbel umarmte Lorenz und drückte ihn fest an sich. Dann sagte sie: »Aber das wissen die meisten Eltern nicht. Wer ist schon genau informiert über das, was die Kinder im Studium so alles machen? Vielleicht hat sie sogar Seminare der bildenden Kunst besucht?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Lorenz mehr zu sich selbst als zu Bärbel. »Ich weiß es einfach nicht.«
Es entstand eine Stille, in der niemand etwas sagen wollte. Dann gab Lorenz sich einen Ruck und sagte zu Professor Neuendorf gewandt: »Sehen Sie hier: Der Gallier in der Bildmitte ist, auch wenn das Foto leider keine Details des Gemäldes zeigt, ganz eindeutig Ambiorix. Gerda nahm als Vorbild die bekannte Skulptur des Eburonenhäuptlings, welche auf dem Marktplatz im belgischen Tongeren steht. Die beiden Römer zu seinen Füßen stellen vermutlich die Legaten Sabinius und Cotta dar, die er in der Schlacht im Rurtal besiegte.«
»Ihre Tochter hatte neben Talent und handwerklichem Geschick offenbar auch eine Menge Humor«, bemerkte Neuendorf. »Immerhin ist es eine ganz besondere Idee, ein solches Motiv im Stile eines mittelalterlichen Meisters zu malen. Lochner malte typische christliche Motive wie Heilige und Märtyrer, Darstellungen von Christus und Maria, Engel und so weiter. Antike Themen wurden erst in der Folgezeit der Renaissance aufgegriffen, und so etwas wie Gallier und Römer kenne ich nur aus noch späteren Werken des französischen Klassizismus. Dieser Cross-over ist eine bemerkenswerte Idee. Aber, wenn ich das zusätzlich noch bemerken darf, mit allen Kennzeichen einer gezielten und ziemlich professionellen Fälschung.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte Lorenz.
»Ich stelle nur die Fakten zusammen«, verteidigte sich der Professor. »Ich kann und will nicht behaupten, dass Ihre Tochter sich als Fälscherin betätigt hat. Dagegen spricht auch eindeutig die Motivwahl, die doch zu sehr aus dem Rahmen fällt. Bei diesen Fähigkeiten hätte sie sicher einen Lochner glaubwürdiger nachahmen können. Jedoch – alle angewandten Techniken entsprechen denen einer Kunstfälschung. Aber genau könnte man das ohnehin nur sagen, wenn man die Oberfläche des übermalten Bildes weitgehend freilegen würde. Die Infrarot-Reflektographie einer übermalten Fläche ersetzt natürlich nicht die Analyse eines frei liegenden Bildes.«
»Wie dem auch sei«, meinte Bärbel. »Das müssen wir jetzt erst einmal verdauen.«
Lorenz nickte gedankenverloren, während er den Blick nicht von der Signatur seiner Tochter abwenden konnte. »Stimmt«, sagte er. Und sehr leise fügte er hinzu: »Und in der Zwischenzeit würde Kommissar Wollbrand darüber nachdenken, warum Gerda dieses Ambiorix-Bild gemalt hat. Natürlich auch, warum und von wem es übermalt wurde.«
13. Kapitel
Mit einem leisen Quietschen drehte sich der Hebel der Kaffeemühle im Kreis. Wesentlich lauter war dabei das Kracksen der Bohnen, die in das Mahlwerk gerieten und zu aromatischem Pulver verwandelt wurden, das sich in einer kleinen Holzschublade sammelte.
Alexander Grosjean sah sich, während Gustav die Mühle bediente, in dessen Zimmer um. Die Wände waren leer, keine Dekoration ergänzte die Standardmöblierung der Seniorenresidenz Burgblick. Die Tür zum Nebenzimmer, in dem Gustavs Bett stand, war offen. Neben dem Bett hing ein einsames Foto an der Wand.
»Was ist das?«, fragte Alexander Grosjean, der in die Türschwelle zum Schlafzimmer getreten war.
»Sumatra«, antwortete Gustav. »Eine dunkle, körperreiche Bohne.«
»Entschuldige, ich meinte nicht den Kaffee, sondern das Foto dort«, erwiderte Alexander. »Es fällt halt so auf, weil es das Einzige ist, das daran erinnert, dass hier jemand wohnt. Darf ich es mir näher ansehen?«
»Gerne«, sagte Gustav.
Alexander betrachtete das Bild, das Gustav neben einem Grabstein zeigte, auf dem eine Reihe kleinerer Steine lag.
»Meine einzige Verwandtschaft, die ich besuchen kann«, kommentierte Gustav. »Sara Vohs, eine
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