Nachtseelen
Anhänger prasselten auf Alba herunter und zerschellten auf dem Boden. Das Tier befreite sich, nachdem es den halben Leuchter demoliert hatte, und lieà sich wie reifes Obst fallen. Es machte nicht einmal einen Versuch, den Sturz abzufangen. Alba fing es auf, sonst wäre es auf dem Parkett aufgeschlagen.
In ihren Armen begann es allerdings erneut wild mit den Flügeln zu schlagen, zerfetzte mit den Krallen ihren Pullover, zerkratzte ihre Oberarme und schrie â hoch und schrill, dass es Alba in den Ohren wehtat. Sie lieà den Rotmilan los. Er tat einige Hüpfer, plumpste vornüber, um dann gleich wieder aufzuspringen und das Gefieder aufzuschütteln. Er sah zerrupft aus, einige der
Federn waren geknickt. Völlig wirr ruckte er den Kopf hin und her.
»Was ist mit dir?«, redete sie auf ihn ein, als könne er ihr antworten. So aufgebracht hatte sie ihn noch nie gesehen, und das gefiel ihr ganz und gar nicht. »Wo ist Finn?«
Bei dem Namen stieà der Vogel erneut sein schrilles »Wiih!« aus. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er hüpfte über das Parkett, erhob sich schwerfällig in die Luft und knallte erneut gegen eine Fensterscheibe.
»Mein Gott, er bringt sich noch um«, flüsterte jemand.
»Der Vogel ist krank«, mutmaÃte ein anderer. »Kommt ihm bloà nicht zu nahe. Hat schon jemand Tierfänger gerufen?«
Doch Alba war es egal, was die Leute redeten.
»Athene! Beruhige dich. Ich binâs.« Sie näherte sich dem Tier, doch es taumelte wieder hoch.
Erst im dritten Anlauf gelang es ihm, durch das geöffnete Fenster zu entweichen.
»Das ist überhaupt nicht gut«, hörte sie Adrián sagen, der plötzlich neben ihr stand. »Wenn ein Seelentier sich so aufführt, kann das nur eines bedeuten.«
»Was?«, hauchte sie und wollte auf einmal keine Antwort hören, sich stattdessen die Ohren zuhalten und weglaufen. Dem Vogel hinterher.
»Dass sein Herrchen tot ist. Oder kurz davor steht zu sterben.«
Kapitel 26
L innea schlängelte sich zwischen den Büschen hindurch, dicht an den Wurzeln vorbei, über das herbstlich kalte Erdreich. Das Geäst mit den letzten verschrumpelten Blättern vermochte ihre leuchtend grüne Färbung nicht zu verbergen. Ihr Schlangenkörper ringelte sich, und die Muskeln beförderten ihn vorwärts. Sie musste schneller nach Hause. Noch etwas länger drauÃen, und sie würde erstarren, denn für eine Schlange war es hier nicht mehr warm genug. Bereits jetzt war ihr Stoffwechsel heruntergefahren, die Bewegungen wurden träge. Obwohl das Seelentier um einiges mehr aushalten konnte als sonstige Reptilien, da auch es von der Verschmelzung mit einem Menschen profitierte.
Linnea verlieà die Böschung, kroch auf den Bürgersteig und schnellte auf die andere StraÃenseite. Auf ihrem Weg suchte sie die Nähe gerade abgestellter Autos, deren heià gelaufene Motoren ihr Wärme spendeten, und kroch dicht an den Häusern vorbei.
Im Körper ihres Seelentiers, mit Smaragdas Geist verschmolzen, fühlte sich Linnea wohler als in ihrer eigenen Haut. Zu schade, dass sie sich dieses Vergnügen so selten gönnen durfte. Nur in den äuÃersten Fällen, wie
in diesem hier, lieà sie die Verschmelzung zu. Wenn bloà die Kälte und der Mangel an UV-Strahlen ihr nicht so zusetzen würden! Aber bald würde sie zu Hause sein. Sie hatte bereits alles erkundet, wie sie es vorgehabt hatte. Die weiteren Vorbereitungen konnte sie nur in ihrem menschlichen Körper bewältigen.
Der Abend hatte sich bereits über die Stadt gesenkt und brachte noch mehr Kälte mit sich. Die StraÃe erstreckte sich leer vor ihr. Sonst hätten sich so einige Passanten gewundert oder wären schreiend davongelaufen, wenn sie die Palmlanzenotter gesehen hätten: eine grüne Schlange, die sich alles andere als heimisch in Deutschland fühlte.
Der letzte Abschnitt ihres Weges war am schwierigsten, denn die StraÃen, durch die sie kriechen musste, waren auch am Abend noch stark frequentiert. Dennoch gelang es ihr, das Ziel, ohne entdeckt zu werden, zu erreichen. Sie schlüpfte ins Treppenhaus und steuerte ihre Tür im Erdgeschoss an, die sie nicht abgeschlossen, sondern bloà angelehnt hatte. Endlich die ersehnte Wärme! Endlich die UV-Strahler und die tropisch feuchte Luft! Feierabend für Smaragda, doch für Linnea fing alles gerade
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