Offene Rechnungen
angebracht hielt. Heute wirkte die Patientin wesentlich stabiler und sie konnten sich beruhigter an die Auswertung der Gewebeprobe machen. Die Zeit bis zur Mittagspause war so sehr mit Arbeit ausgefüllt, dass Simon keinen Gedanken an sein geplantes Vorhaben im Zentrum aufbringen konnte.
»Was? Schon so spät?«
Simons Blick war zufällig an der Uhr an der Wand hängen geblieben und so erkannte er, dass es längst Zeit für seinen Besuch im Zentrum war. Hastig zog er seinen weißen Kittel aus und zog stattdessen die hüftlange Wildlederjacke über. Dann meldete er sich im Stationszimmer bei der Stationsschwester ab und verwies für Notfälle auf sein Handy. In langen Sätzen jagte der Stationsarzt schließlich die Treppen ins Erdgeschoss hinunter, da er nicht auf den Fahrstuhl warten wollte. Zweimal wäre er dabei fast mit sich sehr mühsam bewegenden Patienten kollidiert, konnte quasi in letzter Sekunde ausweichen. Schließlich saß Simon in seinem Audi und rollte am ehemaligen Finanzamt von Rendsburg vorbei, wo sich mittlerweile die Arbeitsagentur befand. Der sonnige Tag hatte nicht nur eine Reihe von Spaziergängern auf die Straßen gelockt, sondern sogar erste Cabriofahrer zum Fahren mit offenem Verdeck verleitet.
»Da werden wir demnächst wieder einige Patienten mehr auf die Station bekommen«, stellte Simon angesichts der Leichtsinnigkeit der Fahrer lakonisch fest.
Als er den Wagen auf dem Parkplatz am Zentrum abstellte, fiel sein Blick auf einen geparkten Streifenwagen. Simon zögerte kurz mit dem Aussteigen, doch dann stieß er entschlossen die Autotür auf und betrat das Geschäftshaus. Als er am Empfangstresen vorbeikam, sah er zu seiner Enttäuschung, dass Norbert Martens dort saß. Der Angestellte hob den Kopf und winkte grüßend, als er den Arzt erkannte. Simon erwiderte den Gruß und begab sich dann in die Cafeteria. Dort fand er fast alle Tische belegt vor, eroberte jedoch einen freien Stuhl an einem Vierertisch. Zwei Männer und eine Frau unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über den Mord. Die Männer spielten die coolen Typen, überboten sich in wilden Spekulationen. Eine Bemerkung der Frau weckte allerdings Simons Aufmerksamkeit.
»Was hier in der Nacht so alles abgeht, da wundert mich so ein Mord auch nicht mehr.«
Ein warnender Blick in Richtung des Fremden am Tisch reichte leider aus, um die Frau nicht weiter über die nächtlichen Aktivitäten reden zu lassen. Dennoch verfügte Simon dadurch über einen Aufhänger für ein Gespräch mit Ilona Specht. Wenn nicht heute, dann eben an einem der kommenden Tage. Als Simon seinen Teller mit Reis und gedünsteter Seezunge geleert hatte, trank er in Ruhe noch einen Becher Kaffee. Ihm sagte das Umfeld in der Cafeteria durchaus zu, da hier im Gegensatz zur Kantine des Krankenhauses keine medizinischen Themen beim Mittagessen abgehandelt wurden. Durchaus reizvoll und wenn die Qualität des Essens immer so wie an diesem Tag war, dann sprach eigentlich nichts gegen gelegentliche Besuche. Nachdem Simon den Kaffee ausgetrunken hatte, stellte er das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr in den dafür vorgesehen Behälter und verließ die Cafeteria. Gemächlich schlenderte er in Richtung Ausgang, als er den dunklen Haarschopf von Ilona Specht hinter dem Empfangstresen ausmachte. Er atmete tief ein und sprach sich selbst Mut zu, bevor er an den Tresen trat. Die Mitarbeiterin bemerkte den Arzt nicht sofort, sondern notierte sich einige Dinge voller Eifer. Erst, nachdem Simon sich leise geräuspert hatte, schaute Ilona auf.
»Oh, Verzeihung. Ich habe Sie gar nicht kommen hören. Zu wem möchten Sie denn?«
Sehr dienstbeflissen wandte Ilona dem vermeintlichen Besucher eines der Unternehmen ihre volle Aufmerksamkeit zu. Ilona fand den Arzt sehr interessant und vielleicht konnte sie ihn ja sogar für sich gewinnen. Früher war der attraktive Mann nie zum Essen ins Zentrum gekommen. Es musste doch einen Grund geben, wieso er es jetzt auf einmal tat. Wieso sollte sie nicht der Grund sein? Also schenkte sie Dr. Vester ihr schönstes Lächeln das Simon automatisch erwiderte.
»Zu Ihnen, um ganz ehrlich zu sein.«
Für einen Augenblick sprang Verwirrung in die braunen Augen von Ilona, als sie sich in ihrem Schreibtischstuhl zurücklehnte. Trotz ihres Hanges zu romantischen Träumereien blieb Ilona immer Realistin und verwechselte nie das reale Leben mit ihren Träumen. Mit seiner Antwort hatte Dr. Vester sie allerdings überrascht, passte sie doch ausnahmsweise zu
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