Osterfeuer (German Edition)
gleichen
Weg hatte.
Trude hatte das Steilufer erreicht.
Der Bach stürzte sich zwischen Weißdornhecken als kleiner Wasserfall zum Strand
und das Fremdenverkehrsamt hatte hier oben eine Bank aufgestellt, von der aus man
die ganze Weite der Lübecker Bucht genießen konnte. Ein großer Findling lag neben
der Bank und dahinter kauerte sich Trude, immer noch fest das Taschenmesser umklammernd,
in der Hoffnung ihrem Verfolger aus dem Blick entwischt zu sein. Und tatsächlich,
wenige Augenblicke später konnte sie zwischen den ersten Bäumen eine Gestalt ausmachen,
die vorsichtig um sich äugend näher kam. Vor Spannung wagte Trude kaum zu atmen
und sie versuchte angestrengt zu erkennen, mit wem sie es da zu tun hatte.
Ihre Überraschung war so groß, dass
sie vor Staunen tatsächlich auf ihr Hinterteil plumpste und in ein irres Lachen
ausbrach. Sie rappelte sich hoch und musste immer noch kichern, als Betty sie endlich
entdeckte und sogleich in ein hysterisches Geschrei ausbrach.
»Betty, ich bin’s! Trude!«, rief
sie der Freundin zu, da sie glaubte, sie hätte sie vielleicht in ihrer übergroßen
Jacke nicht erkannt und wollte zu ihr hin laufen.
»Bleib mir vom Leib! Lass mich in
Ruhe! d u Mörderin!«
Bettys Stimme war in ein angstvolles
Kreischen übergegangen und sie hielt abwehrend beide Hände vor sich gestreckt.
»Bist du völlig übergeschnappt?
Was redest du da für einen Blödsinn?«, rief Trude aufgebracht und machte ein paar
schnelle Schritte zu ihr hin. Betty wich zurück und zischte dabei Trude zu:
»Du weißt genau, was ich meine!
Im Gegensatz zu dir bin ich noch nie übergeschnappt. Und die Polizei sieht das genauso.«
»Tut mir leid – ich verstehe kein
Wort«, sagte Trude nur und versuchte begütigend ihre Hand auf Bettys Schulter zu
legen. Da sah Betty das Messer, das Trude immer noch in ihrer Hand hatte, und fing
wieder laut an zu schreien.
»Hilfe! Hilfe!«
Zu spät sah Trude das Unheil kommen.
Im Eifer des Gefechts hatten sie sich immer näher auf den Abhang des Steilufers
zu bewegt. In ungläubigem Staunen die Augen aufgerissen, die Arme wie zwei Flügel
ausgebreitet, fiel Betty hintenüber. Trude sah sie wie in Zeitlupe fliegen. Dann
schlug der kompakte, runde Körper auf dem letzten Teil der Schräge auf festgebackenem
Erdreich auf, rollte noch ein paar Meter und blieb dann regungslos am Strand liegen.
Trude stand wie festgeklebt an derselben
Stelle. Grau und aufgewühlt rauschte die Ostsee und der kalte Wind ließ ihre Augen
tränen. Sie klappte mechanisch das Taschenmesser zusammen und versenkte es in ihrer
Jackentasche. Dann holte sie sich ihren Beutel Brunnenkresse, den sie hinter dem
Findling hatte liegen lassen, und begann vorsichtig den Abstieg zum Strand.
10
Eben noch hatte die Sonne zwischen den Wolken hervorgelugt und ein
paar helle Flecke auf das aufgewühlte, graue Meer gemalt, doch jetzt gingen dichte
Vorhänge aus Regen über Wasser und Land nieder. Der Wind warf sich mit solcher Macht
gegen das Auto, dass es einiger Aufmerksamkeit bedurfte, die Spur zu halten und
trotz höchster Betriebsgeschwindigkeit kämpften die Scheibenwischer vergeblich gegen
die Wassermassen. Viel Verkehr herrschte bei diesem Wetter naturgemäß nicht auf
der sonst bei den Urlaubern wegen des unverstellten Blicks über die Ostsee beliebten
Straße.
Trude fuhr langsam und vorsichtig.
Immer wieder musste sie an die arme Betty denken. Dass sie sich über die Freundin
und ihren ungeheuerlichen Verdacht maßlos geärgert hatte, war jetzt nicht mehr wichtig.
Betty lag mit mehreren Knochenbrüchen im Krankenhaus und es war noch nicht klar,
welcher Art ihre Kopfverletzungen waren. Seit dem Sturz war sie noch nicht wieder
ansprechbar gewesen. Irgendwie musste Trude diese Nachricht auf möglichst schonende
Weise der sechzehnjährigen Tochter der Freundin beibringen. Eine kräftige Bö ließ
den Wagen kurz nach rechts schlingern. Erschrocken steuerte Trude gegen und versuchte,
sich besser aufs Fahren zu konzentrieren. Vorhin hatte sie die Abreise von Betty
und Iris am heutigen Abend noch herbeigesehnt. Sie hatte wenig Lust verspürt, die
nach Margots gewaltsamem Ende zwischen Misstrauen, Aggression und Schwermut schwankende
Stimmung länger zu ertragen und außerdem wartete sie ungeduldig auf eine Gelegenheit
zur Aussprache mit Franz. Jetzt aber hoffte sie inständig, dass sie Betty bei ihrem
nächsten Besuch im Krankenhaus bei Bewusstsein und auf dem Weg der Genesung vorfinden
würde.
Der Regen
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