Portrat in Sepia
Gebiet fast ganz unzivilisiert geblieben wäre. Es
brauchte mehrere Tage, um die Ländereien der Dominguez
abzureiten, die bis an die Grenze zu Argentinien reichten.
Abends wurde gebetet, und der jährliche Kalender war von den
Daten der religiösen Feiertage beherrscht, die mit Strenge und
Fröhlichkeit eingehalten wurden. Meine Schwiegereltern hatten
bald gemerkt, daß ich mit sehr wenig katholischer Unterweisung
aufgewachsen war, aber in der Hinsicht hatten wir keine
Probleme, weil ich ihre Überzeugungen achtete und sie nicht
versuchten, sie mir aufzuzwingen. Dona Elvira erklärte mir, der
Glaube sei ein Geschenk Gottes: »Gott ruft deinen Namen, er
erwählt dich«, sagte sie. In ihren Augen befreite mich das von
Schuld, Gott hatte meinen Namen noch nicht gerufen, aber wenn
er mich in diese christliche Familie versetzt hatte, dann deshalb,
weil er es bald tun würde. Meine Begeisterung, mit der ich ihr
bei ihren wohltätigen Werken unter den Pachtbauern half,
entschädigte sie für meinen mangelhaften religiösen Eifer; sie
glaubte, mich bewege der Geist der Barmherzigkeit, ein Zeichen
meiner guten Veranlagung, sie wußte ja nicht, daß ich mich im
Damenklub meiner Großmutter damit unterhalten hatte und daß
es hier das ganz prosaische Interesse war, die Feldarbeiter
kennenzulernen und sie zu fotografieren. Außer Don Sebastian,
Eduardo und Diego, die in einem guten Internat erzogen worden
waren und die pflichtgemäße Europareise hinter sich hatten,
ahnte hierorts niemand, wie groß die Erde eigentlich war.
Romane waren in diesem Heim nicht erlaubt, ich glaube, Don
Sebastian hatte einfach keine Lust, sie zu zensieren, und um zu
verhindern, daß irgendwer einen auf der schwarzen Liste der
Kirche verzeichneten las, zog er es vor, kurzen Prozeß zu
machen und alle zu verbieten. Die Zeitungen kamen mit so viel
Verspätung, daß sie keine Nachrichten brachten, sondern
Geschichte. Dona Elvira las in ihren Gebetbüchern, und Adela,
Diegos jüngere Schwester, besaß ein paar Bände Gedichte,
einige Biographien von historischen Persönlichkeiten und
Reisebeschreibungen, die sie immer wieder las. Später entdeckte
ich, daß sie sich Kriminalromane beschaffte, von denen sie die
Einbanddeckel abriß und durch die von Büchern ersetzte, die ihr
Vater erlaubte. Als meine Koffer und Kisten aus Santiago
ankamen und Hunderte von Büchern daraus auftauchten, bat
Dona Elvira mich mit ihrer gewohnten Sanftmut, sie nicht vor
der übrigen Familie aufzustellen. Jede Woche schickten meine
Großmutter und Nivea mir Lesematerial, das ich in meinem
Zimmer aufbewahrte. Meine Schwiegereltern sagten nichts, ich
nehme an, sie vertrauten darauf, daß diese schlechte Gewohnheit
vergehen werde, wenn ich erst Kinder hatte und nicht mehr
soviel müßige Stunden erübrigen konnte, wie es meiner
Schwägerin Susana erging, die drei prächtige und sehr schlecht
erzogene Rangen hatte. Sie hatten jedoch nichts gegen das
Fotografieren, vielleicht ahnten sie, daß es sehr schwierig sein
würde, mich in diesem Punkt kurzzuhalten, und wenn sie sich
auch nie neugierig auf meine Arbeit zeigten, wiesen sie mir
doch einen Raum an, in dem ich mir ein Labor einrichten
konnte. Ich war in der Stadt aufgewachsen in der komfortablen
und kosmopolitischen Umgebung des Hauses meiner
Großmutter, sehr viel freier als eine Chilenin damals und heute,
denn obwohl bereits das erste Jahrzehnt des zwanzigsten
Jahrhunderts zu Ende geht, haben sich die Verhältnisse nicht
sonderlich modernisiert für die Mädchen hierzulande. Der
Wechsel im Lebensstil, als ich im Schoß der Dominguez
landete, war brutal, obwohl sie ihr Möglichstes taten, damit ich
mich wohl fühlte. Sie waren sehr gut zu mir, es war leicht, sie
gern zu haben; ihre liebevolle Freundlichkeit glich das
reservierte und bisweilen mürrische Wesen Diegos aus, der mich
vor den anderen wie eine Schwester behandelte und, wenn wir
allein waren, kaum mit mir sprach. Die ersten Wochen, in denen
sie sich bemühten, mich in die Familie einzubeziehen, waren
recht anregend. Don Sebastian schenkte mir eine schöne
schwarze Stute mit einem weißen Stirnfleck, und Diego schickte
mich mit einem Aufseher zu einem Erkundungsritt über Land,
ich lernte die Arbeiter kennen und die Nachbarn, die so viele
Kilometer entfernt wohnten, daß jeder Besuch drei oder vier
Tage dauerte. Dann ließ er mich frei. Mein Mann verschwand
mit Vater und Bruder zu den Feldarbeiten oder zur
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