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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Mädchen sah, ein anmutiges zwar, aber
jedenfalls ein kleines Mädchen. Adelas abgrundtiefe Unbildung
und die Dreistigkeit, mit der sie die aberwitzigsten Dummheiten
behauptete, amüsierten ihn wohl, wenn auch ihre naiven
Kokettierversuche imstande waren, ihn zum Erröten zu bringen.
Radovic flößte Vertrauen ein, es fiel mir leicht, mit ihm über
Themen zu sprechen, die ich selten vor anderen erwähnte aus
der Befürchtung heraus, sie zu langweilen, wie etwa über
Fotografie. Die interessierte ihn, weil sie seit mehreren Jahren in
Europa wie in den Vereinigten Staaten immer häufiger in der
Medizin verwendet wurde; er bat mich, ihm zu zeigen, wie man
mit der Kamera umgeht, weil er ein Register mit Fotografien
von seinen Operationen einschließlich der äußerlich sichtbaren
Krankheitssymptome der Patienten anlegen wollte und dadurch
seine Vorlesungen und Vorträge anschaulich machen könnte.
Mit dieser Absicht machten wir uns auf, Don Juan Ribero zu
besuchen, aber wir fanden das Atelier verschlossen und mit
einem Schild, wonach es zum Verkauf stand. Der Friseur im
Haus nebenan erzählte uns, der Meister arbeite nicht mehr hier,
weil er den Star auf beiden Augen habe, aber er gab uns seine
Adresse, und wir gingen hin. Er wohnte in einem Haus in der
Calle Monjitas, das schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte,
es war groß, alt und von Gespenstern heimgesucht. Die
Hausangestellte, die mich noch kannte, führte uns durch
mehrere miteinander verbundene Zimmer, die vom Boden bis
zur Decke mit Riberos Fotoarbeiten tapeziert waren, in einen
Salon mit alten Mahagonimöbeln und abgewetzten
Plüschsesseln. Es gab keine brennenden Lampen, und wir
brauchten ein paar Sekunden, um die Augen an das Halbdunkel
zu gewöhnen und den Meister zu erkennen, der mit einer Katze
auf den Knien am Fenster saß, durch das der letzte Widerschein
des Spätnachmittags fiel. Er stand auf und kam geradenwegs auf
uns zu, um uns zu begrüßen, nichts an seinem Gang zeigte seine
Blindheit an.
»Señorita del Valle! O Verzeihung, jetzt heißt es Señora
    Dominguez, stimmt’s?« rief er und streckte mir beide Hände hin.
»Aurora, Meister, immer noch dieselbe Aurora«, antwortete
ich und umarmte ihn. Dann stellte ich ihm Doktor Radovic vor
und erzählte ihm von seinem Wunsch, zu medizinischen
Zwecken das Fotografieren zu lernen.
»Ich kann niemanden mehr etwas lehren, mein Freund. Der
Himmel hat mich dort gestraft, wo es mich am meisten
schmerzt, in den Augen. Stellen Sie sich vor, ein blinder
Fotograf, welche Ironie!«
»Sehen Sie gar nichts mehr, Meister?« fragte ich erschrocken.
»Mit den Augen sehe ich nichts, aber ich betrachte weiterhin
die Welt. Sagen Sie mir, Aurora, haben Sie sich verändert? Wie
sehen Sie heute aus? Das klarste Bild, das ich von Ihnen habe,
ist das einer Dreizehnjährigen, die sich störrisch wie ein
Maultier vor der Tür meines Ateliers aufgepflanzt hat.«
»Ich bin immer noch dieselbe, Don Juan, schüchtern, dumm
und dickköpfig.«
»Nein, nein, sagen Sie mir zum Beispiel, wie Sie das Haar
tragen und welche Farbe Ihr Kleid hat!«
»Die Señora trägt ein leichtes weißes Kleid mit Spitze am
Halsausschnitt - aus welchem Stoff weiß ich nicht, ich kenne
mich in diesen Dingen nicht aus -, dazu einen gelben Gürtel
passend zum Hutband. Ich versichere Ihnen, daß sie sehr hübsch
aussieht«, sagte Radovic.
»Aber Doktor, ich bitte Sie, Sie machen mich ja verlegen«,
unterbrach ich ihn.
»Und jetzt hat die Señora rote Wangen«, fügte er hinzu, und
beide lachten einträchtig. Der Meister schwenkte eine kleine
Tischglocke, worauf die Hausangestellte mit dem Kaffeetablett
hereinkam. Wir verbrachten eine höchst angeregte Stunde, in
der wir über die neuen Techniken redeten, über die Kameras, die
in anderen Ländern benutzt wurden, und über wissenschaftliche
Fotografie und wie weit man auf dem Gebiet vorangekommen
war. Don Juan Ribero war über alles auf dem laufenden.
»Aurora besitzt die Kraft, die Konzentration und die Geduld, die
jeder Künstler braucht. Ich nehme an, ohne die kann auch ein
guter Arzt nicht auskommen, nicht wahr? Lassen Sie sich ihre
Arbeiten zeige n, Doktor, sie ist zu bescheiden und wird es nicht
tun, wenn Sie nicht darauf bestehen«, empfahl der Meister Iván
Radovic, als wir uns verabschiedeten. Einige Tage später wachte
meine Großmutter mit schrecklichen Magenschmerzen auf, ihre
gewohnten Beruhigungsmittel halfen nicht, also riefen wir
Radovic, der eilig herbeikam und ihr

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