PR NEO 0053 – Gestrandet in der Nacht
handelte, das die Sinneswahrnehmungen beschnitt, dem Körper sonst aber keinen Widerstand leistete. Dennoch widerstrebte es ihr, in die Schwärze zu treten; es war, wie in einer offenen Luftschleuse oder am Rand einer Klippe zu stehen. Auf absurde Weise kam sie sich wie ein kleines Mädchen vor, und all ihre Freundinnen hielten gebannt den Blick auf sie gerichtet, ob sie die Mutprobe bestehen würde. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
»Nur zu«, sagte der Lotse.
Ihin da Achran holte tief Luft und trat in die Leere.
Erst war ihr, als hätte sie einen Moment das Bewusstsein verloren oder erwache gerade aus einem Sekundenschlaf, so vollkommen war das Nichts, in dem sie sich von einem Augenblick auf den nächsten wiederfand. Sie sah nicht, sie hörte nicht, sie spürte und roch nicht, selbst der trockene Geschmack, den sie zuletzt auf der Zunge gehabt hatte, verschwand. Es fühlte sich an, als schwebte ihr Gehirn körperlos in einem dunklen Tank, einer wohligen Finsternis, wie ein Dotter in einem Ei. Normalerweise hätte sie ein solches Gefühl wohl gleichermaßen beängstigt wie angeekelt, doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich geborgen in diesem Moment. Sie fühlte sich nicht allein. Sie war sich also selbst genug, stellte sie nicht ohne Stolz fest. Es mochte allerdings auch sein, dass sie gar nicht allein war ... Tatsächlich kam es ihr so vor, als würde sie da von etwas berührt, einem anderen Geist, einem unsichtbaren Zwilling ...
Hoho, sagte die Stimme. Wenn das nicht Ihin da Achran ist! Was muss ich da hören? Du glaubst also nicht an mich?
Einen Moment war sie sprachlos. Nie hätte sie damit gerechnet, dass Anetis wirklich zu ihr sprach. Schon wollte sie eine Rechtfertigung vorbringen. Eine Entschuldigung, wenn nötig, denn immerhin ...
Also, was hältst du von meinem kleinen Zaubertrick? Es war gar nicht so leicht, einen wirklich sicheren Kontakt zu dir herzustellen ...
Da dämmerte ihr, dass man sie an der Nase herumgeführt hatte. Sie kannte diese Stimme. Sie hatte sie schon einmal gehört – zu Hause, auf Arkon ...
»Charron?«, fragte sie fassungslos.
»Und?«, fragte der Hohe Lotse, als sie sich kurz darauf wieder neben ihm auf dem Podest wiederfand. »Was hat Anetis Ihnen mitgeteilt?«
Die Augen des ganzen Saals und mehrerer Drohnen waren auf sie gerichtet. Die Rudergängerin schenkte der Versammlung ein makelloses Lächeln.
»Es ist alles in Ordnung. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«
»Das ist alles?«
Sie wandte sich ihm zu und ließ ihre Haare etwas nach vorne fallen, damit die Kameras ihr Gesicht nicht einfingen.
»Wenn uns wirklich eine Gefahr droht, dann nicht von dort draußen«, flüsterte sie. »Das wissen Sie doch selbst gut genug, oder nicht?«
»Was soll das heißen? Was haben Sie gehört?«
Was für ein Spiel trieb der Lotse? Wusste er wirklich nicht, was gerade geschehen war? Oder war er ein besserer Schauspieler, als sie es für möglich gehalten hätte?
»Nichts, was Sie verstehen würden«, zischte sie und wandte sich zum Gehen. »Bringen Sie Ihren Mummenschanz zügig zu Ende. Sie finden mich auf meinem Schiff!«
10.
Atlan
In den Sekunden vor dem Erwachen erkenne ich meistens, dass ich nur träume, doch es hilft mir nicht, mich von den Träumen zu lösen. Sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebt: Cunor, mein alter Gefährte, wie ich ihn das letzte Mal sah, ehe er ging, um seinem Leben ein Ende zu setzen, als greiser Mann. Leda, bei unserer ersten Begegnung am Hofe von Sparta, als wir noch nichts von den Jahren des Krieges ahnten – oder ist es Lisa del Giocondo, von der ich nicht das erste Mal träume?
Was ist meine Existenz anderes als ein Traum, das Fortdauern jenes einzigen langen Tages, jener einzigen langen Nacht, mit der alles begann, und der seitdem zu enden verwehrt wurde – ein Fluss, der niemals das Meer erreicht, ein Gletscher, der niemals schmilzt? Die Jahre meines Lebens werden zu Jahrhunderten, die Wochen zu Zeitaltern. Menschen werden geboren, leben und sterben, nur mein Leben dauert dank der Gnade des Kleinods um meinen Hals an.
Der Ausdruck der Überraschung in Tombe Gmunas Gesicht, als der Schuss aus der Waffe des Sicherheitsbeamten ihn trifft. Ein hellgrüner Strahl, der auf mich zuschießt ...
Jemand rüttelte mich am Arm. Es war Rico. Natürlich war es Rico. Wer sonst? Ich hatte keine Zeit, die Eindrücke meines Traums zu verarbeiten. Er redete in raschem Stakkato auf mich ein.
»Herr, wir müssen
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