Prinzessin auf den zweiten Blick
leise.
Kaliq verzog schmerzhaft das Gesicht. Zafirs Namen laut ausgesprochen zu hören, traf ihn wie ein Stich mitten ins Herz. Wie lange hatte er nicht mehr an seinen schwarzlockigen kleinen Bruder mit den lebhaften dunklen Augen gedacht!
Hatten er und seine Familie sich möglicherweise aus Gram dessen schuldig gemacht, das Andenken an Zafir, der im Alter von sechs Jahren spurlos verschwunden war, aus dem Palast zu verbannen? Einfach weil sie die grausame Realität nicht ertragen konnten? Oder waren sie nichts als emotionale Feiglinge, die dunkle Seiten des Lebens lieber zu verdrängen suchten, als sich ihnen zu stellen?
Kaliq neigte normalerweise nicht zur Selbstkritik und musterte das fordernde Stallmädchen mit grimmiger Miene. „Was weißt du über Zafir?“, drehte er den Spieß um.
Sein brennender Blick und die stumme Qual in den dunklen Augen griffen ihr ans Herz. Am liebsten hätte sie, einem inneren Instinkt folgend, seine geschundenen Handgelenke umfasst und tröstend massiert, wie bei einem verletzten Pferd, das sich einen Dorn eingetreten hatte. Doch das wagte sie nicht … aus den unterschiedlichsten Gründen.
„Ich weiß nur, ihm ist etwas Schreckliches widerfahren“, gab sie ehrlich zu.
„Aber nicht was?“, fragte er gepresst.
Eleni schüttelte den Kopf. „Unsere Geschichtsstunden in der Schule … sie waren nicht sehr umfassend, Hoheit“, erwiderte sie zögernd und dachte an einen von den Kartenfreunden ihres Vaters. Ein einstmals begabter Poet und wilder Trunkenbold, der für gewöhnlich eine ganze Flasche Zelyoniy während einer Pokerrunde zu leeren pflegte. Was hatte er noch gesagt?
Die Leute wissen nur, was der Palast zulässt, dass sie erfahren sollen …
Königliche Zensur hatte er es genannt, doch Eleni dachte schon damals, dass jeder das Recht haben sollte, seine privaten Geheimnisse auch für sich zu behalten. Erst recht eine Familie, die derart im Fokus der Öffentlichkeit stand.
„Was ist mit ihm geschehen, Hoheit?“
Ihre warme, mitfühlende Stimme schmolz das Eis um die verdrängte Vergangenheit.
„Mein Zwillingsbruder und ich wollten mit einem Floß aufs Meer hinausfahren“, begann Kaliq mit mühsam neutral gehaltener Stimme und spürte, wie ihn die Erinnerungen an jenen Albtraumtag überschwemmten. „Zafir hat so lange gebettelt, bis wir ihn mitgenommen haben. Wir sollten an jenem Tag auf unseren kleinen Bruder aufpassen, was blieb uns also anderes übrig …?“
„Kleine Jungen können ziemlich hartnäckig sein“, murmelte Eleni verständnisvoll.
Und charmante kleine Teufel, dachte Kaliq bei sich und sah plötzlich Zafirs gewinnendes Grinsen vor sich. Hatten sie ihn alle vielleicht deshalb so verwöhnt, weil ihre Mutter bei seiner Geburt gestorben war? Auf jeden Fall hatte er jeden in seiner Umgebung mühelos um den kleinen Finger wickeln können.
„Das Floß wurde durch unerwartet aufkommende Winde zu weit auf die See hinausgetrieben, und wir gerieten in die Fänge einer Schmugglerbande, die sich durch uns in ihren unlauteren Geschäften gestört fühlte. Und im herrschenden Durcheinander ist es Zafir leider entschlüpft, dass unsere Angreifer königliche Scheichs zu ihren Gefangenen machen wollten. In seiner Naivität hatte er die Männer dadurch abschrecken wollen, aber genau das Gegenteil bewirkt …“
Kaliq schloss für einen Moment die Augen und schluckte hart.
„Natürlich war die Aussicht auf ein Lösegeld für drei Prinzen lukrativer als jede Diamantenbeute von einem der Handelsschiffe!“, stieß Eleni in jähem Begreifen hervor. „Oh, Hoheit, was ist dann geschehen?“
Kaliq war so in seinen Erinnerungen gefangen, dass ihn ihr unzeremonieller Einwurf nicht einmal irritierte. „Zafir konnte uns unbemerkt losbinden, und wir warfen ihn zurück aufs Floß. Doch ehe wir ihm folgen konnten, wurde unser Fluchtversuch vereitelt. Sie haben auf uns geschossen, und Aarif wurde im Gesicht getroffen. Er fiel ins Wasser. Ich sprang hinterher und tauchte nach ihm. Natürlich hat man uns daraufhin beide wieder festgesetzt.“
„Und Zafir …?“
Kaliq verzog schmerzhaft das Gesicht und ballte die Hände zu Fäusten. „Das Floß trieb ab … und mit ihm Zafir. Man hat nie eine Spur von ihm gefunden. Obwohl mein Vater die längste und aufwendigste Suche der Geschichte Calistas nach ihm in die Wege geleitet hat. Mein kleiner Bruder … er war erst sechs Jahre alt …“
Zutiefst schockiert starrte Eleni in sein aufgewühltes Gesicht.
„Und was ist
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