Psychopathen
Ritual, das in geheimen Dojos in Japan und im Himalaja regelmäßig von denen vollführt wird, die nach Vollendung streben – jenen Geistflüsterern, die auch den Trägern des schwarzen Gürtels noch haushoch überlegen sind.
Heutzutage ist das Schwert glücklicherweise aus Plastik. Doch es gab eine Zeit – lange bevor Gesundheit und Sicherheit großgeschrieben wurden –, in der es sich um ein echtes Schwert handelte.
Ein geheimnisvoller Sensei, der weit in den Achtzigern war, enthüllte mir das Geheimnis: »Man muss seinen Geist vollkommen leeren«, erklärte er mir, als wir im Schneidersitz in einem schattigen Garten tief in den alten Buchenwäldern des Tanzawa-Berglands saßen. »Man muss sich vollständig auf das Jetzt fokussieren. Wenn man in einen Zustand wie diesen eintritt, kann man die Zeit riechen. Kann spüren, wie ihre Wellen die Sinne überspülen. Das winzigste Kräuseln kann über große Entfernungen entdeckt und das Signal abgefangen werden. Oft sieht es so aus, als würden die beiden Kämpfer sich simultan bewegen. Aber das ist nicht der Fall. Es ist nicht schwierig. Mit Übung kann man die Kunst beherrschen.«
Beim erneuten Lesen erinnern mich die Worte des alten Sensei stark an die Aussage des psychopathischen Neurochirurgen, dem wir in Kapitel 4 begegnet sind. Natürlich kannte ich ihn noch nicht, als ich nach Japan ging. Doch wenn ich ihn gekannt hätte, hätte ich seine Beschreibung dessen, wie er sich manchmal vor einer Operation fühlt, gern meinem Gastgeber erzählt.
Und der alte Mann in seinem mönchischen Hakama hätte gelächelt.
Der mentale Zustand, den der Chirurg »supernormal« nennt – ein »veränderter Bewusstseinszustand, der sich aus Präzision und Klarheit speist« –, scheint dem Geisteszustand, von dem der Sensei sprach, sehr ähnlich zu sein: dem Geisteszustand des Zeitspürens, in den der mit verbundenen Augen auf dem Boden kniende Kämpfer eintritt, um seinen Schwert schwingenden Angreifer zu entwaffnen.
Man wird auch an die Arbeit von Joe Newman erinnert, der, wie in Kapitel 2 beschrieben, in seinem Labor an der University of Wisconsin aufgezeigt hat, dass es nicht unbedingt zutrifft, dass Psychopathen in gewissen Situationen keine Angst
empfinden
. Vielmehr sind sie sich der Bedrohung nicht bewusst: Ihre Aufmerksamkeit richtet sich allein auf die vorliegende Aufgabe und alles Ablenkende wird gnadenlos herausgefiltert.
Im Fall von Psychopathen gilt diese Fokussierung normalerweise natürlich als bösartig: als Kennzeichen des eiskalten Killers, der auf der Suche nach dem perfekten Opfer wie eine Gottesanbeterin an den Stadtgrenzen herumschleicht; des Völkermord begehenden Diktators, der blind ist gegenüber Moral oder Recht und darauf versessen, bei seinem Streben nach kultureller und politischer Allmacht jede abweichende Meinung zu unterdrücken.
Nur selten wird diese Fokussierung mit Begriffen wie mitfühlend, transzendental oder spirituell in Verbindung gebracht.
In letzter Zeit haben eine Reihe von Studien jedoch ein neues Licht auf diese völlig unwahrscheinlich erscheinende Möglichkeit geworfen und eine fundamentale Neubewertung dessen vorangetrieben, was es heißt, ein Psychopath zu sein.
Helden und Schurken
Mem Mahmut von der Macquarie University in Sydney hat etwas Außergewöhnliches herausgefunden: dass Psychopathen weit davon entfernt zu sein scheinen, grundsätzlich hart und emotionslos zu sein, ja unter den richtigen Umständen sogar altruistischer sein können als der Rest von uns. 158
Mahmut führte eine Studie mit einer Reihe von Szenarien aus dem wirklichen Leben durch, in denen Menschen Passanten um Hilfe baten (ahnungslose Probanden, die zuvor auf psychopathische Merkmale getestet worden waren und eine hohe oder niedrige Punktzahl erzielt hatten).
Die Sache hatte jedoch noch einen Dreh. Diejenigen, die um Hilfe baten, taten dies nicht rein zufällig. Sie waren vielmehr Mahmuts böse Mitverschworene in einem einzigartigen teuflischen Experiment zur Erforschung der Beziehung von Psychopathie und Hilfsverhalten.
Das Experiment bestand aus drei Teilen. Im ersten Teil baten Mahmuts Komplizen die Passanten direkt um Hilfe, indem sievorgaben, sich verlaufen zu haben, und nach dem Weg fragten. Im zweiten Teil war die »Bitte« um Hilfe weniger direkt und deutlich: Eine Frau hatte einen Stapel Papiere fallen lassen. Im dritten Teil war die Bitte schließlich noch undeutlicher: Eine Laborforscherin, die sich angeblich den Arm gebrochen hatte
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