Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
bisschen zu jung dafür. Bei mir spielte es sicher eine Rolle, dass wir gerade umgezogen waren und ich keine Freunde hatte.«
»Bei mir auch.«
»Ihr wart auch umgezogen?«
»Nein.«
Ein paar Sekunden lang sahen wir uns gedankenverloren an. Er wusste nicht, ob er mich bemitleiden, mir gut zureden oder einfach lachen sollte. Zum Glück fingen wir dann beide an zu lachen und ließen uns dabei nicht aus den Augen, sodass wir in unserem Lachen vereint waren, davon umfangen.
Und in den nächsten ein, zwei Stunden erzählte Luke eine lustige Geschichte nach der anderen. Zum Beispiel hatte er in einem indischen Restaurant in der Canal Street ein Currygericht gegessen, das so scharf war, dass er, wie er steif und fest behauptete, drei Tage danach auf einem Auge blind war. Als wir vom Essen sprachen, entdeckten wir, dass wir beide Vegetarier waren. Damit eröffneten sich unendliche Gefilde gemeinsamer Erfahrungen, und wir sprachen ausführlich darüber, dass Vegetarier diskriminiert und nicht ernst genommen würden. Und mit Begeisterung erzählten wir uns Als-ich-fast-gezwungen-wurde-Fleisch-zu-essen-Geschichten.
Eine von Lukes Geschichten war unübertroffen. Er hatte in einem Gasthaus in County Kerry übernachtet und bestellte sich ein vegetarisches Frühstück. Als aufgetragen wurde, waren auf seinem Teller riesige Mengen von Frühstücksspeck verführerisch angerichtet.
»Was passierte dann?«, fragte ich erwartungsvoll.
»Ich sagte zu Mrs. O’Loughlin: ›Verehrte Wirtin, sagte ich nicht, ich sei Vegetarier?‹«
»Und was hat sie geantwortet?«, fragte ich begierig.
»Sie sagte: ›Durchaus, junger Mann, durchaus. Was gibt es denn?‹ Und ich sagte: ›Frühstücksspeck, Missus, das gibt es.‹ Darauf wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen und sagte: ›Aber das geht doch nicht, Sie sind doch ein junger Mann, und dann essen Sie nur so ein paar Pilze und vier oder fünf Eier. Was schadet denn da ein bisschen Frühstücksspeck?«
Wir verdrehten die Augen und stöhnten und schnalzten mit der Zunge und fühlten uns großartig.
Ein paar Minuten lang klagten wir über den allgemein verbreiteten, übermäßigen Eiweißkonsum, und stellten fest, dass Alfalfa-Sprossen viel besser als ihr Ruf waren und eine wunderbare Quelle aller möglichen Nährstoffe.
»Was brauchen wir sonst noch?«, stellte ich die rhetorische Frage. »Nichts, Alfalfa-Sprossen reichen vollkommen.«
»Genau«, pflichtete Luke mir bei. »Ein erwachsener Mann ernährt sich ausreichend, wenn er alle zwei Monate eine Handvoll Sprossen zu sich nimmt.«
»Man kann sogar Sprit für Autos aus ihnen gewinnen«, sagte ich. »Aber das ist noch nicht alles, von Alfalfa-Sprossen bekommt man Röntgenaugen, übermenschliche Kräfte und ... was noch ...?«
»Ein glänzendes Fell«, war Lukes Idee.
»Richtig. Stimmt genau.«
»Und man erkennt das Geheimnis des Universums.«
»Genau.« Ich lächelte. Ich fand ihn toll, ich fand mich toll, ich fand Alfalfa-Sprossen toll.
»Schade, dass sie so scheußlich schmecken.«
»Das stimmt allerdings«, musste auch er zugeben.
Ich legte mich mächtig ins Zeug, um jede von Lukes umwerfend komischen Anekdoten mit einer Anekdote aus meinem Schatz zu übertreffen. Er konnte wunderbar erzählen und Akzente und Stimmen nachmachen. Erst stellte er einen mexikanischen Banditen dar, dann einen russischen Präsidenten und dann einen übergewichtigen Polizisten aus Kerry, der jemanden verhaftete.
Er schien in einer tristen, schwarzweißen Welt farbig zu leuchten.
Und auch ich war witzig und unterhaltsam, denn ich war ganz entspannt. Nicht nur, weil ich allerhand getrunken hatte, sondern auch, weil ich keinerlei Absichten auf Luke hatte.
So wie ich nie nervös war, wenn ich mich mit einem Schwulen unterhielt, und sah er noch so gut aus, so konnte ich Luke und seine Freunde nicht ernsthaft als potenzielle Liebhaber betrachten. Vor ihnen würde ich es einfach nicht schaffen, zu erröten und wie eine Gehirnamputierte zu verstummen; niemals würde ich aus lauter Verlegenheit statt des Portemonnaies eine Binde aus der Tasche ziehen oder mir mit den Fingern durch die Haare fahren und mir dabei einen falschen Fingernagel abreißen oder mit einer Telefonkarte für die Runde bezahlen wollen, was mir jedes Mal passierte, wenn ich es auf einen Mann abgesehen hatte.
Es ist unglaublich befreiend, wenn man auf einen Mann nicht scharf ist, weil man es dann auch nicht darauf anlegt, ihn scharfzumachen.
Bei Luke konnte ich ganz ich
Weitere Kostenlose Bücher