Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
Vom Netzwerk:
selbst sein.
    Was immer das hieß.
    Nicht dass er unattraktiv war. Er hatte schönes dunkles Haar – beziehungsweise es hätte schön sein können, wenn es ordentlich geschnitten gewesen wäre. Und er hatte blitzende Augen, ein ausdrucksstarkes Gesicht und ein lebhaftes Mienenspiel.
    Ich erzählte ihm die Geschichte meiner Familie, weil die Leute das aus irgendeinem Grund erheiternd finden. Ich erzählte ihm von meinem Vater, dem einzigen Mann unter sechs Frauen. Wie er in ein Hotel ziehen wollte, als die Menopause meiner Mutter zur gleichen Zeit einsetzte wie die Pubertät meiner älteren Schwester.
    Ich erzählte ihm, wie mein Vater einen kleinen Kater nach Hause brachte, um die Geschlechterverteilung in unserer Familie ein wenig auszugleichen, und dann feststellen musste, dass es kein Kater war. Und wie er auf der Treppenstufe saß und jammerte: »Selbst der olle Kater ist ein Mädchen.«
    Luke lachte hemmungslos, was mich ermutigte, ihm von der Klassenfahrt nach Paris zu erzählen, die ich mit fünf zehn gemacht hatte: Bei der Stadtrundfahrt war der Bus in Pigalle in einen Stau geraten, und die Nonnen rasteten fast aus, weil draußen die Neonreklame der Nacktbars blinkte.
    »Du weißt schon«, sagte ich zu Luke. »›Mädchen, nackte Körper, nackte Haut!«‹
    »Von solchen Sachen habe ich schon gehört«, sagte Luke, die Augen groß in gespielter Unschuld. »Aber gesehen habe ich so was noch nicht.«
    »Natürlich nicht.«
    »Was haben also die guten Nonnen gemacht?«
    »Erst mal haben sie die Vorhänge im Bus zugezogen.«
    »Das ist ein Witz!« Luke war verblüfft.
    »Und dann ...«, sagte ich langsam. »Du wirst nicht glauben, wie es weiterging.«
    »Wie ging es denn weiter?«
    »Schwester Canice nahm im Gang Aufstellung und verkündete: ›Hierhergesehen, Mädchen, die schmerzensreichen Geheimnisse, zuerst das Leiden Christi. Vater unser, der du bist im Him... – Rachel Walsh, komm vom Fenster weg! – der du bist im Himmel ... ‹«
    Luke prustete los. »Ihr musstet den Rosenkranz beten?«
    »Du kannst es dir richtig vorstellen, oder?«, sagte ich, und er lachte noch mehr. »Vierzig fünfzehnjährige Mädchen und fünf Nonnen in einem Bus, der im Rotlichtbezirk in Paris im Stau steht, die Vorhänge vorgezogen, und alle beten den Rosenkranz, mit allem Drum und Dran. Und das ist eine wahre Geschichte«, sagte ich feierlich in sein gerötetes, lachendes Gesicht.
    Wie ein Bagger förderte Luke alles Mögliche in mir zutage, und ich erzählte ihm Dinge, die ich einem Mann, auf den ich es abgesehen hatte, nie erzählen würde.
    Irgendwie entschlüpfte mir auch, dass ich die Gesammelten Werke von Patrick Kavanagh neben meinem Bett liegen hatte. Kaum war es raus, wünschte ich mir, ich hätte es nicht gesagt. Ich wusste genau, was »in« war und was nicht.
    »Nicht weil ich so eine Intelligenzbestie bin«, erklärte ich hastig. »Aber hin und wieder lese ich ganz gern, und meine Konzentration reicht nur für ein kurzes Gedicht.«
    »Das verstehe ich gut«, sagte er und warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Bei einem Gedicht muss man sich nicht die ganze Handlung oder die verschiedenen Personen merken.«
    »Ich glaube, du machst dich über mich lustig.« Ich lächelte.
    »Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man Gedichte liest«, beharrte er.
    »Das würdest du nicht sagen, wenn du meine Schwestern hättest«, sagte ich bekümmert und verzog das Gesicht, sodass er lachen musste.
    Gelegentlich versuchten die anderen, mit ihren Geschichten an unserer Unterhaltung teilzunehmen, aber sie konnten nicht mithalten. Keiner konnte so amüsant erzählen wie Luke oder ich. Zumindest dachten Luke und ich das, und wir warfen uns verschwörerische Blicke zu, als Gaz schleppend die Geschichte erzählte, wie sein Bruder fast an einem Rice Crispie erstickt wäre. Oder war es ein Frostie? Nein, Moment, vielleicht war es ein Weetabix. Kein ganzes, es könnte unmöglich ein ganzes Weetabix gewesen sein. Oder vielleicht doch ... ?
    Alle anderen, einschließlich Brigit, gingen wenigstens einmal zur Bar, um Nachschub zu besorgen, nicht jedoch Luke oder ich. Wir überhörten Gaz, der mehrmals rief: »Deine Runde, du jämmerlicher Geizkragen.« (Irgendwann konnte Joey ihm begreiflich machen, dass die Getränke umsonst waren, und danach hielt Gaz den Mund.)
    Währenddessen waren Luke und ich so sehr damit beschäftigt, uns gegenseitig mit komischen Anekdoten zu übertreffen, dass wir es kaum merkten, wenn jemand uns ein volles Glas

Weitere Kostenlose Bücher