Rebellin der Leidenschaft
Ausreiten nur mit O’Henry in solche Gefahr gebracht hatte. Er war in einem Moment der Furcht weggefahren. Ja, er war in der Tat davongelaufen.
Aber es hatte nicht funktioniert.
Er konnte nicht länger vor sich selbst weglaufen, vor seinen Gefühlen, vor seiner Frau.
Die Episode mit den Landstreichern - die alle innerhalb einer Stunde nach Nicoles Rückkehr nach Clayborough gefasst und dem örtlichen Gefängnisaufseher übergeben wurden - hatte in Hadrian eine gewaltsame Konfrontation mit seinen tiefsten, innigsten Gefühlen ausgelöst. Ein Wissen, das er - wahrscheinlich schon seit dem Beginn seiner Beziehung mit Nicole - zu meiden versucht hatte, war nun schonungslos und unentrinnbar in ihm aufgestiegen. Der Augenblick, in dem er über jeden Zweifel erhaben wusste, dass er seine Frau liebte, war der schrecklichste Augenblick seines Lebens.
Sein ganzes Leben lang hatte er sich und seine Leidenschaften souverän unter Kontrolle gehabt. Sein ganzes Leben lang hatte er seine Emotionen rigoros in Schach gehalten. Schon als kleinerjunge hatte er gelernt, seine Gefühle zu verbergen, sogar vor sich selbst. Denn zu fühlen bedeutete, verwundbar zu sein. Zu fühlen bedeutete, verwundet zu sein.
Und nun war er nicht mehr unverwundbar. Im Gegenteil, er war nie in seinem Leben verwundbarer gewesen. Er liebte Nicole so leidenschaftlich, dass es an Obsession grenzte. Diese Vagabunden hätten sie beinahe verletzt, vielleicht sogar ermordet.
Der bloße Gedanke daran entsetzte und peinigte ihn selbst jetzt, vier Tage danach, noch.
Nach der Festnahme der drei Männer war er sofort nach London aufgebrochen. Als wollte er seinen Gefühlen davonlaufen. Als wollte er vor dem Wissen, mit dem er sich nun konfrontiert sah, davonlaufen. Er hatte vorgehabt, über sich - und sein Herz - die Kontrolle wiederzuerlangen, koste es, was es wolle. Selbst wenn es bedeutete, seine Frau für immer auf seinem Landsitz zu lassen und in den Armen anderer Frauen Zuflucht zu suchen.
Aber keiner seiner Fluchtrouten war Erfolg beschieden. Er war mit dem Vorsatz zu Holland Dubois gegangen, eine Nacht mit ihr zu verbringen, die ihn nie mehr an Nicole würde denken lassen, doch stattdessen hatte er höflich die Beziehung mit ihr beendet. Er hatte vorgehabt, in London zu bleiben und sich geschäftlichen Dingen zu widmen, doch stattdessen hatte er es nicht erwarten können, wieder nach Hause zu kommen.
Dieses neue, dieses übermächtige Wissen war noch immer in ihm, und es war noch immer erschreckend, ln den vergangenen Tagen war er manchmal mitten in der Nacht aufgewacht und hatte die Panik und das Alleinsein gespürt, wie er es als kleiner Junge gespürt hatte. Mit dem Schlaf war auch die Angst gewichen, aber zuvor hatte er die Angst und seine Verwundbarkeit, hatte er seine menschliche Natur erkannt.
Schließlich hatte er aufgegeben und hatte sich ihr, und sich selbst, ergeben. Sie war seine Frau, und er liebte sie. Sie hatte ihn in der Vergangenheit viele Male zurückgewiesen, aber er hatte es überlebt - wie er auch Francis’ grausame Zurückweisungen überlebt hatte. Doch in letzter Zeit hatte sie ihn nicht mehr zurückgewiesen. ln letzter Zeit hatte es zwischen ihnen tagsüber eine Waffenruhe gegeben, die sich nachts vollständig in die unwiderstehlichste Form von Intimität verwandelte. Es gab Hoffnung. Ihre Ehe konnte von Erfolg gekrönt sein - die erste Woche hatte es deutlich gezeigt. Doch Hadrian wusste, er würde nie mit dem zufrieden sein, was sie bislang geteilt hatten. Er wollte nun so viel mehr. Er wollte ihre Liebe, und er wollte, dass sie so voll und gefestigt war wie die seine.
Als die Kutsche die lange Auffahrt hinauffuhr, begann er zu schwitzen. Bei ihrer letzten Begegnung hatten sie eine wütende Konfrontation inszeniert, die er jedoch begonnen hatte, weil er sich so herzzerreißend um ihre Sicherheit sorgte. Durch seine Abreise ohne ein Wort der Erklärung hatte er die Dinge wahrscheinlich noch verschlimmert. Er war sich nicht sicher, wie sie ihn jetzt empfangen würde.
Doch er hatte ein Friedensangebot dabei. Auf dem Sitz neben ihm lag eine große, in Geschenkpapier verpackte Schachtel. Wenn sie den Inhalt sah, würde sie seinen aufrichtigen Wunsch erkennen, seinen wilden Zorn und seine unüberlegte Abreise aus Clayborough wieder gutzumachen.
Vor den überdimensionierten, geschnitzten Eingangstüren von Clayborough kam die Kutsche zum Stehen. Die Schachtel unter dem Arm, stieg Hadrian aus. Mrs. Veig hieß ihn willkommen.
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