Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
fast alle deutschen und schweizerischen Journalisten konnten sich gegen den kollektiven Rausch nicht wehren, und so war zwei Tage nach Bekanntwerden des Ganzen das »Opfer« Claudia Dinkel geboren. Das wurde sanft eingeleitet, indem man einen Vertreter der Opferschutzorganisation »Weißer Ring« befragte. Der »Weiße Ring« verfolgt sicher auch sehr verdienstvolle Aufgaben, ist mir aber besonders als Schutzorganisation krimineller Falschbeschuldigerinnen aufgefallen. Befragt, was er von allem hielte – und zwar zuerst befragt von Focus Online und dann allgemein übernommen –, sagte Helmut Rüster, der Pressesprecher dieser Organisation: »Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand solche Taten ausdenkt, ist ziemlich gering. Vor allem angesichts der Tatsache, dass die Anzeige offenbar kurz nach der Tat [sic!] erfolgte und das Opfer [sic!] nicht mit dem Ekel allein sein wollte.«
Am selben Tag erfand Dinkel-Anwalt Franz, dass »ein Arzt eindeutige Spuren einer Vergewaltigung festgestellt« hätte. Nein, das hat kein Arzt getan, damals nicht, in den Gutachten nicht, vor Gericht nicht. Aber alle deutschen und Schweizer Journalisten haben es brav abgeschrieben, ohne es zu hinterfragen, und begannen somit bereits am 24. März 2010, Recht zu sprechen. Ein Artikel von »amc« auf 2 0 min.ch endete mit einem Ausflug in die Küchenpsychologie über Frau Dinkel: »Noch wird ihr Gesicht verpixelt, noch ist ihre Identität unbekannt, doch das kann sich schnell ändern. Dessen dürfte sie sich als Radiomoderatorin sicherlich bewusst sein. Würde sie das in Kauf nehmen für eine haltlose Beschuldigung?«
Ja, so einfach ist die Welt! Deshalb wurde Dinkel auch wahrheitswidrig als devotes Hascherl geschildert, das in furchtbaren Rollenspielen gedemütigt wurde und allenfalls ein Codewort sagen musste, damit irgendwas aufhört. Alles Schwachsinn! Es war zwar angesichts des seltenen bis monatelangen Nicht-Sehens sowieso nicht, was man sich gemeinhin unter einer Beziehung vorstellt. Das wenige, das war, fand auf gegenseitiger Augenhöhe statt. Das reale Selbstbewusstsein, später auch vortrefflich auf den Fotos aus dem Gericht zu erkennen, passte wie der rotzige Auftritt vor den Richtern nicht zum erfundenen Geschehen in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2010, weshalb Staatsanwaltschaft und Medien das arme Hascherl erfinden mussten.
Und weil zu einem richtigen Opfer auch traurige alte Menschen dazugehören, wurden die armen Dinkel-Eltern frühzeitig in die Schlacht geworfen: Vater Dinkel durfte in Bild kundtun, dass es »Frau und Tochter sehr schlecht« ginge, und über Mutter Dinkel hörte man von Traurigkeit bis Depression so allerlei Mitleiderregendes.
3. Den angeblichen Täter zum Monster machen.
Aus mir ein Monster zu machen schien zunächst die schwierigste Aufgabe zu sein; ich hatte ja über fünfzig Jahre lang ein unauffälliges Leben geführt, hatte nie in Wirts- oder Treppenhäusern randaliert und war nie laut oder auch nur im Ansatz gewalttätig geworden. Obendrein war ich ja schon eine Weile in der Öffentlichkeit, und es wäre schon vor Dinkels Tat spannend gewesen, irgendwas Komisches über mich zu schreiben. Ich hatte auch nie Journalisten näher als beruflich opportun in meine Nähe gelassen; am Anfang meiner öffentlichen Zeit hatte ich ein paar Ausrutscher, als ich Journalisten für Porträts auf Autofahrten mitnahm und zu dummen Sammelgeschichten meinen Senf abgab, weil ich dachte, es wäre gut für die Firma. Irgendwann hatte ich bemerkt, dass das ganz egal ist und dass nicht wenige Journalisten im einundzwanzigsten Jahrhundert oft schon damit überfordert sind, irgendwas korrekt zu zitieren, während manche gleichzeitig eine Arroganz und Allmachtsfantasie an den Tag legen, die mir widerwärtig erschien, und ich hatte mich entschieden, Medienarbeit nur noch kontrovers oder eben gar nicht zu gestalten.
Kurzum, vor allem die deutsche Boulevardjournaille, aber auch der sogenannte seriöse Rest, der durchaus meist nicht anders ist, wusste genau, was ich von ihnen hielt. Man darf zum einen wohl davon ausgehen, dass die Abneigung gegenseitig war und ist. Zum anderen gab es die Bunte , deren Redakteurin schon in den ersten Tagen Bittbriefe an Claudia Dinkel geschrieben hatte und war bereits am 30. März 2010 in einem weiteren Fax (woher hatte sie Dinkels Privatnummer?) sehr deutlich geworden: »Wie ich Ihnen schon mehrfach geschrieben habe, habe ich Ihnen von Anfang an geglaubt, was Herr Kachelmann Ihnen angetan
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