Rettungslos
ihr kurz zu, und sie schaffte es tatsächlich, sein Lächeln zu erwidern. Danach lag sie vollkommen starr, als könnte sie durch Reglosigkeit das Furchtbare, das sie erlebt hat, ungeschehen machen oder zumindest weit von sich schieben. Dann lieà die Betäubung ihrer Gefühle allmählich nach, und die Tränen kamen, unerbittlich wie ein Sturzbach, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Sie drückte das Gesicht ins Kissen, um ihr Schluchzen zu dämpfen.
Es ist, als hätte Kreuger sie brutal einer Schutzschicht beraubt, einer verletzlichen, aber bisher unversehrten Haut, die ihr Innerstes vor Schaden bewahrte â und nun liegt ihre verletzte Seele bloÃ.
Mit einem Stöhnen dreht Lisa sich auf die Seite, und plötzlich fällt ihr ein, dass Anouk nun mit Kreuger allein ist. Hastig steht sie auf und beginnt im Schrank zu kramen. So gern sie sich jetzt stundenlang unter
die Dusche stellen würde, sie muss sich mit frischen Kleidern begnügen.
Mühsam und mit brennendem Schmerz zwischen den Beinen geht sie die Treppe hinab und sagt sich, das sei nicht das Ende der Welt. Sie atmet noch, ist noch dieselbe Lisa wie vor einer Stunde. Im nächsten Moment wird ihr die Unsinnigkeit dieser Ãberlegung bewusst â nichts, absolut nichts ist mehr, wie es war!
Wenn er dem Kind etwas angetan hat, bringe ich ihn um, denkt sie entschlossen, ganz egal, welche Folgen das für mich hat.
In ängstlicher Erwartung öffnet sie die Wohnzimmertür. Auf dem Esstisch sieht sie offene Töpfchen mit Fingerfarbe und viele Papierbogen mit bunten Männchen.
Wo ist Anouk? Lisa sieht ihre Tochter nirgends, stürmt ins Zimmer und blickt sich ratlos um.
»Anouk, wo bist du?«, schreit sie mit sich überschlagender Stimme.
»Ich bin in der Küche, Mama!«
Anouk steht auf einem Stuhl vor der Spüle und wäscht sich mit Seife die Hände, Kreuger hilft ihr dabei. »Gut so. Jetzt da noch ein wenig, schau mal, dein Daumen ist noch ganz rot.«
Lisa lehnt sich an den Türrahmen und atmet tief durch. Langsam beruhigt sich ihr Herzschlag, und ihr gelingt sogar ein Lächeln, als Kreuger sie ansieht.
»Sie hat jede Menge Bilder gemalt«, sagt er gut gelaunt.
»Ich habe es gesehen. Toll!« Lisa kommt die eigene Stimme fremd vor, das Lächeln liegt wie eine Maske
auf ihrem Gesicht, aber ihm scheint das nicht aufzufallen. Er wirkt zufrieden und entspannt. Anouk springt vom Stuhl und läuft auf ihre Mutter zu. Ungestüm umarmt sie Lisa und schmiegt sich an sie.
»Wo warst du, Mama?«
»Ich hatte oben zu tun. Du hast doch schön gemalt, oder?«
»Du sollst aber nicht weggehen! Warum ist die Tür nicht aufgegangen?«
Du lieber Himmel, das Kind hat versucht, ins Schlafzimmer zu kommen, geht es Lisa durch den Kopf. Sie sieht Kreuger an und empfindet plötzlich fast so etwas wie Dankbarkeit, dass er Anouk wenigstens dies erspart hat. Sofern das überhaupt seine Absicht war und er damit nicht nur verhindern wollte, dass sie die Flucht ergreift. Wer kann schon sagen, was im Kopf eines Mörders, noch dazu eines Kindermörders, vorgeht? Aber vielleicht glimmt dort auch ein Funke Menschlichkeit. Sie muss einfach glauben, dass es so ist. Immerhin hat er weder Anouk noch sie umgebracht und scheint das auch nicht vorzuhaben. Andererseits ⦠Lisa hat nicht die geringste Ahnung, was für Pläne Kreuger hat.
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Den restlichen Nachmittag verbringt sie in der Küche. Sie hat schon immer gern gekocht und sucht darin Zuflucht. Das lenkt sie ab. Sie stellt das Radio leise an, um Kreuger nicht zu stören, der im Wohnzimmer eine Sportsendung ansieht. Er hat sich eine Flasche Bier aus der Garage geholt und die FüÃe auf den Couchtisch gelegt. Wenn sie es nicht besser wüsste, könnte sie denken, Menno säÃe da.
Ihr Blick fällt auf die Fotos, die mit Magneten am Kühlschrank befestigt sind. Fotos von Menno und ihr, Schnappschüsse aus einem anderen Leben, als sie sich gerade kennengelernt hatten und sie selbst noch jung und voller Hoffnung war.
Mit einem Seufzer öffnet sie den Mikrowellenherd, um zu prüfen, ob das Fleisch schon aufgetaut ist. Ihre Tiefkühltruhe und der Vorratsschrank sind immer gut gefüllt mit Konserven, Brot und Fleisch, damit sie nicht täglich einkaufen gehen muss. Weil Anouk sich schon am Freitag unwohlfühlte, hat sie noch rasch eingekauft, ihre Tochter vorsichtshalber krankgemeldet
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