Ringwelt 06: Flatlander
hinterher Aufzeichnungen darüber in den Speichern des Rechners zurückblieben.
Und Gelegenheit? Irgendjemand hatte aus dem Ödland westlich von Hovestraydt City auf Penzler gefeuert. Penzler hatte sie gesehen; ein als Paranormaler bekannter Agent der ARM hatte bestätigt, daß niemand außer ihr in der Nähe gewesen war. Ob Naomi Mitchison den Schuß abgefeuert hatte? Wer sonst?
Während seines Verteidigungsplädoyers legte Boone größten Wert auf die fehlende Waffe. Die Geschworenen sollten entweder die Aussage von Gil ›dem Arm‹ Hamilton abtun, der keine weiteren Verdächtigen hatte entdecken können, oder sie sollten die Tatsache akzeptieren, daß man keine Waffe gefunden hatte. Keine Waffe – kein Täter. Die Natur der Wunde legte nahe, daß die Waffe von einem Amateur zusammengebaut worden war, unter Einsatz von Kenntnissen und Fähigkeiten, die Naomi Mitchison ganz sicher nicht besaß. Gil Hamiltons PSI-Gabe hatte die Waffe nicht gefunden, genauso wenig wie den richtigen Mörder.
Die Gegenargumentation der Staatsanwaltschaft war kurz und prägnant. Es mußte einen Laser gegeben haben. Ganz gleich, welcher Art die Waffe gewesen war – wenn Hamilton sie nicht finden konnte, dann war sie zerlegt worden. Es gab genügend Staubtümpel, um alles Mögliche darin zu verstecken. Die Geschworenen sollten sich nicht bei der fehlenden Waffe aufhalten, sondern statt dessen die Anwesenheit einer einzelnen verdächtigen Person draußen auf der Oberfläche würdigen, deren Lufterneuerungssystem allmählich versagte.
Kurz nach Mittag war der Richter dabei, die Geschworenen zu belehren. Gegen dreizehn Uhr hatten sie sich zur Beratung zurückgezogen.
Wir trotteten zum Speisesaal davon. Ich verspürte keinen Hunger – natürlich nicht –, doch ich brachte es fertig, mit Bertha Carmody eine Unterhaltung in Gang zu bringen, während sie ihr Sandwich aß.
»Ich frage mich, ob die Geschworenen tatsächlich genügend Informationen erhalten haben, um eine Entscheidung zu fällen«, begann ich. »Die Plädoyers kamen mir doch sehr kurz vor.«
»Sie wissen alles, was sie brauchen«, entgegnete Bertha. »Sie verfügen über einen Computer mit Zugang zu sämtlichen Aufzeichnungen der Verhandlung, können Akten über jeden abrufen, dessen Name auch nur erwähnt wurde, und haben Zugriff auf die gesamte Stadtbibliothek. Falls eine juristische Frage auftaucht, können sie den Richter Tag und Nacht um Rat fragen, bis sie sich zu einem Urteilsspruch durchgerungen haben. Was soll ihnen noch fehlen?«
Vielleicht sollten sie einmal in Naomi Mitchison verliebt gewesen sein.
Während der nachmittäglichen Sitzung konnte ich mich kaum konzentrieren. Ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich den Urteilsspruch der Geschworenen zu erraten versuchte, die nur ein paar Stockwerke von uns entfernt tagten. Die Gespräche gingen an mir vorbei …
»Ich frage mich, ob Sie mit Ihren Urteilen nicht ein wenig schnell bei der Hand sind«, sagte Octavia Budrys. »Immerhin wissen Sie, daß ein Fehlurteil rückgängig gemacht werden kann.«
»Sie alle haben nun einer Gerichtsverhandlung beigewohnt«, entgegnete Bertha Carmody. »Haben Sie irgendetwas an der Verfahrensweise auszusetzen?«
»Nur, daß es so verdammt schnell ging. Ich gebe zu, daß der Fall aussieht, als wäre er klar und keine Frage mehr offen. Was wird als nächstes mit ihr geschehen?«
Der Delegierte von Clavius antwortete: »Das haben wir doch alles schon einmal besprochen. Sie verbringt die nächsten sechs Monate im Tank. Das ist die gleiche Technologie wie auf den interstellaren Kolonieschiffen, und sie ist relativ sicher. Anschließend, falls das Urteil nicht aufgehoben wird, kommt sie in die Organbänke.«
»Bis zu diesem Zeitpunkt wird sie nicht angerührt?«
»Falls nicht ein Notfall eintritt – nein.«
»Und was gilt in der lunaren Rechtsprechung als Notfall?«
Das war die Frage, die mich schlagartig hellwach werden ließ.
Ward versorgte uns mit Einzelheiten. Es hatte bereits Notfälle gegeben. Vor sechs Jahren hatte ein Erdbeben eine der Kuppeln im Kopernikus aufgerissen. Die Ärzte hatten alles verwendet, was sie in die Finger hatten kriegen können, einschließlich der Kältetanks. Sie hatten die Zentralnervensysteme der Verurteilten aufbewahrt, bis die Gnadenfrist verstrichen war. Das gleiche war vor achtzehn Jahren geschehen. Vor zwei Jahren hatte es einen Patienten gegeben, dessen merkwürdiges Abstoßungsspektrum genau mit dem eines Verurteilten im
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