Saphirblau
Geheimversteck hatte bauen wollen. Davor waren Stühle aufgestapelt, aber sehr viel ordentlicher als beim letzten Mal. Es gab keinen Schutt mehr, der Raum war verglichen mit dem letzten Mal geradezu sauber und vor allem viel leerer. Außer den Stühlen vor der Wand gab es noch einen Tisch und ein Sofa, das mit verschlissenem grünem Samt überzogen war.
»Ja, tatsächlich deutlich gemütlicher als bei meinem letzten Besuch hier. Ich hatte die ganze Zeit Angst, eine Ratte könnte herauskommen und mich anknabbern.«
Gideon drückte die Türklinke herunter und rüttelte einmal kurz daran. Offensichtlich abgeschlossen.
»Einmal nur war die Tür offen«, sagte er mit einem Grinsen. »Das war ein wirklich schöner Abend. Von hier aus führt ein Geheimgang bis unter den Justizpalast. Und es geht noch tiefer hinab in Katakomben mit Gebeinen und Schädeln ... Und gar nicht weit von hier befindet sich - im Jahr 1953 - ein Weinkeller.«
»Einen Schlüssel müsste man haben.« Wieder schielte ich zu der Wand hinüber. Irgendwo dort hinter einem losen Ziegelstein lag ein Schlüssel. Ich seufzte. Wie verdammt schade, dass mir das jetzt gar nichts nutzte. Aber irgendwie war es auch ein gutes Gefühl, etwas zu wissen, wovon Gideon ausnahmsweise keine Ahnung hatte. »Hast du den Wein getrunken?«
»Was meinst du denn?« Gideon nahm einen der Stühle von der Wand und stellte ihn vor den Tisch. »Hier, für dich. Viel Spaß bei den Hausaufgaben.«
»Äh, danke.« Ich setzte mich, nahm die Sachen aus meiner Tasche und tat so, als würde ich mich ganz und gar in mein Buch vertiefen. Währenddessen streckte Gideon sich auf dem Sofa aus, nahm einen iPod aus seiner Hosentasche und steckte sich die Kopfhörer ins Ohr. Nach zwei Minuten riskierte ich einen Blick und sah, dass er die Augen geschlossen hatte. War er etwa eingeschlafen? Eigentlich kein Wunder, wenn man bedachte, dass er heute Nacht schon wieder unterwegs gewesen war.
Eine Weile lang verlor ich mich ein wenig in der Betrachtung der geraden, langen Nase, der blassen Haut, der weichen Lippen und der dichten, gebogenen Wimpern. So in entspanntem Zustand wirkte er viel jünger als sonst und plötzlich konnte ich mir ganz gut vorstellen, wie er als kleiner Junge ausgesehen hatte. Auf jeden Fall extrem niedlich. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig und ich überlegte, ob ich es vielleicht wagen könnte - nein, das war zu gefährlich. Ich sollte nicht mal mehr auf diese Wand schauen, wenn ich wollte, dass Lucas' und mein Geheimnis bewahrt wurde.
Weil mir nichts anderes übrig blieb und ich Gideon ja wohl auch schlecht vier Stunden am Stück beim Schlafen beobachten konnte (obwohl das durchaus seinen Reiz hatte), widmete ich mich schließlich meinen Hausaufgaben, zuerst den Bodenschätzen des Kaukasus, dann den unregelmäßigen französischen Verben. Dem Aufsatz über Shakespeares Schaffen und Leben fehlte nur noch der Schluss und den fasste ich beherzt in einem einzigen Satz zusammen:
Die letzten fünf Jahre seines Lebens verbringt Shakespeare in Stratford-upon-Avon, wo er 1616 stirbt.
So, fertig. Jetzt brauchte ich nur ein Sonett auswendig zu lernen. Da sie alle gleich lang waren, pickte ich willkürlich eins heraus. »Mine eye and heart are at a mortal war, how to divide the conquest of thy sight«, murmelte ich.
»Meinst du mich?«, fragte Gideon, setzte sich auf und nahm die Stöpsel aus seinem Ohr.
Ich konnte leider nicht verhindern, dass ich rot wurde. »Das ist Shakespeare«, sagte ich.
Gideon lächelte. »Mine eye my heart thy picture's sight would bar, my heart mine eye the freedom of that right … oder so ähnlich.«
»Nein, ziemlich genau so«, sagte ich und klappte das Buch zu.
»Du kannst es doch noch gar nicht«, sagte Gideon.
»Bis morgen hätte ich es ohnehin wieder vergessen. Am besten lerne ich es morgen früh direkt vor der Schule, dann habe ich gute Chancen, es bis zu Mr Whitmans Englischstunde zu behalten.«
»Umso besser! Dann können wir ja jetzt Menuett üben.« Gideon stand auf. »Platz genug haben wir hier auf jeden Fall.«
»Oh nein! Bitte nicht!«
Aber Gideon verbeugte sich bereits vor mir. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Miss Shepherd?«
»Nichts würde ich lieber tun, mein Herr«, versicherte ich ihm und fächelte mir mit dem Shakespeare-Buch Luft zu. »Aber bedauernswerterweise ist mein Fuß verstaucht. Vielleicht fragen Sie meine Cousine dort. Die Dame in Grün.« Ich zeigte auf das Sofa. »Sie würde Ihnen gern zeigen, wie
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