Schatten der Lust
sie.
»Kali.«
Sie riss die Augen weit auf. »Kali ist deine Mutter? Die Hindu-Göttin der Zerstörung?«
»Zerstörung
und
Erneuerung«, korrigierte Hunter, »und der Frauen und des Gebärens. Sie ist sehr liebevoll, aber verärgere sie nicht!«
»Okay, ich merk’s mir.«
Er hatte Kali gerufen oder vielmehr höflich gebeten, dass sie kommen und mit ihm reden möge. Er hatte sie gefragt, was vor sich ging. Kali war mit dem Wind gekommen, ihr Leib von Feuer eingeschlossen, statt sich richtig zu manifestieren. Sie wollte die Menschen auf der Insel nicht zu Tode erschrecken, und das konnte Kali in ihrer wahren Form durchaus – buchstäblich.
Seine Mutter hatte ihn mit Wärme berührt, einer Liebe jenseits allen irdischen Verständnisses und zugleich doch distanziert. Seine Kindheit hatte Hunter allein mit seinem Vater verbracht, bis er nach Ravenscroft geschickt wurde, wo er seine Brüder kennenlernte und eine gründlichere Ausbildung erhielt.
Kali war eine Stimme in der Nacht, eine Hand auf seinem Kopf, ein Trost in Zeiten der Angst gewesen. Während seine Brüder eine etwas engere Beziehung zu ihren Göttinnenmüttern hatten, war Kali für Hunter stets weniger greifbar gewesen. Aber zumindest hatte sie heute direkt zu ihm gesprochen und sogar seine Fragen beantwortet – auf ihre eigene Weise.
»Die Welt wird dunkel«, hatte sie in ihrem heiseren Flüstern gesagt, wobei sie eine alte Sprache benutzte, die man seit Äonen nicht mehr auf der Welt gehört hatte. »Du wirst gebraucht.«
»Wer hat den Rufzauber ausgeführt?«, hatte Hunter in derselben Sprache gefragt. »Warum hat er nicht richtig gewirkt?«
»Die Welt braucht dich«, hatte sie wiederholt. »Die Finsternis wächst. Das Böse ist zu groß, als dass es deine Brüder allein bewältigen können. Es ist Teil von euch und doch außerhalb von euch.«
»Etwas, womit Adrian nicht fertig wird?«, hatte er gefragt. Es war nicht leicht, die kryptischen Andeutungen zu verstehen. »Ich wette, das macht ihn rasend.« Sein ältester Bruder kontrollierte mit Vorliebe alles um sich herum und nahm seine Stellung als Anführer der Unsterblichen verflucht ernst.
»Die Brüder müssen sich zusammentun, oder die Welt ist verloren.« Eine unvorstellbare Traurigkeit klang aus Kalis Worten. »Tain muss aufgehalten werden, ehe er alles vernichtet.«
»Tain?«, hatte Hunter verwundert gefragt. »Mein kleiner Bruder, der Küken rettet, die aus dem Nest gefallen sind? Was hat er damit zu tun?«
»Ich bin die Zerstörerin der Welt. Wenn ich gerufen werden muss, kann ich nicht einmal dich retten, mein Sohn.«
Ihre Stimme zischte im Wind, während Hunter besorgt lauschte. Kali konnte die Welt auslöschen, wenn sie musste, aber noch nie zuvor hatte sie ihn gewarnt, dass es so weit kommen könnte.
»Dann sind das mehr als ein paar Ewige, die sich danebenbenehmen«, hatte er gesagt. »Ihr braucht uns, um ein paar Wesen richtig in den Hintern zu treten.«
»Tain hat einen Weg gefunden, seinen Schmerz zu töten, nur wird er gleichzeitig auch alles andere töten. Ihr müsst ihn aufhalten.«
Hunter überlegte. Kali konnte unmöglich recht haben. Sein jüngster Bruder, der Friedensstifter, der Heiler, sollte die Welt vernichten wollen? Er war Hunter altersmäßig am nächsten, und Hunter hatte ihn stets geneckt. Und welcher Schmerz? Seit ihrer Schlacht gegen einen Haufen Dunkelfeen in Schottland vor gut siebenhundert Jahren hatte Hunter weder Tain noch seine anderen Brüder wiedergesehen. Hunter war hinterher losgezogen, um sich mit mehreren sehr dankbaren Dorfbewohnerinnen zu vergnügen, und als er drei Tage später wieder zurückkam, waren seine Brüder fort gewesen.
Seither war er keinem von ihnen mehr begegnet, was ihn auch nicht gestört hatte. Er vermutete, dass sie alle nach Ravenscroft zurückgekehrt waren – außer Kalen, der wahrscheinlich zu seinem auserwählten Volk gelaufen war. Hunter hatte beschlossen, auf der Erde zu bleiben und verdammt nochmal zu tun, was ihm gefiel. Er versuchte, den Schmerz zu stillen, der nie ganz verschwinden wollte.
Hatte Tain auch einen geliebten Menschen verloren? Die fünf kurzen Jahre, die Hunter bei Kayla geblieben war und eine Familie gegründet hatte, waren die glücklichsten seines ganzen Daseins gewesen. Ihr Tod hatte einen Teil von ihm zerrissen, der nie wieder heilte. Bis heute erinnerte er sich vage, dass er tagelang vor Schmerz geschrien hatte.
Sollte Tain etwas Ähnliches durchgemacht haben, verstand Hunter, was sein
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