Schismatrix
»Bioplanung steckt noch in den Kinderschuhen«, sagte er. »Wir müssen den Tatsachen ins Auge schauen. Zumindest wird Mars-Kluster mit Hilfe der Königin uns Wohlstand und Sicherheit bieten. Dort immerhin wären unsere einzigen Feinde nur die Jahre.«
Lindsay ruckte abrupt nach vorn und knallte seine eiserne Faust auf den Tisch. »Wir müssen jetzt handeln! Jetzt ist der entscheidende Augenblick, wir stehen am Scheideweg, und jetzt kann ein einziger Akt unserer Zukunft Gestalt verleihen! Wir haben die Wahl: Routine oder Wunder. Verlangt das Wunderbare!«
Gomez war wie betäubt. »Also, dann ist es Europa, Kanzler?« sagte er. »Wellsprings Pläne erscheinen mir als sicherer.«
»Sicherer?« Lindsay lachte. »Czarina-Kluster ist uns doch auch als so sicher erschienen. Aber die Aufgabe hat sich weiterbewegt, und mit ihr die Königin, als Wellspring sich ihrer bemächtigte. Der abstrakte Traum blüht und gedeiht, während die mit Händen greifbare Stadt in Trümmer fallen wird. Und jene, die nicht zu träumen vermögen, werden mit ihr zugrundegehen. Die Intimräume werden überquellen vom Blut der Selbstmörder. Wellspring selbst könnte dabei sterben. Mech-Agenten werden ganze Suburbien annektieren, Shapers werden sich ganze Banken- und Industriesysteme einverleiben. Die alltägliche Routine, die euch hier als so fest und verläßlich erschien, wird dahinschmelzen wie Tränen ... Wenn wir uns dem hingeben, dann werden auch wir zu NICHTS zerfließen wie sie.«
»Aber was sollen wir dann tun?«
»Wellspring ist nicht der einzige, dessen Verbrechen ein vieldeutiges Geheimnis sind. Und er ist auch nicht der letzte, der von der Bildfläche verschwindet.«
»Du willst uns verlassen, Kanzler?«
»Ihr müßt nun Kummer und Katastrophen selbst begegnen. In dieser Rolle bin ich von keinerlei Nutzen mehr.«
Die anderen blickten bestürzt drein. Gomez faßte sich mühsam. »Der Altkanzler hat recht«, sagte er. »Ich wollte soeben etwas in der Richtung vorschlagen. Unsere Feinde werden ihre Angriffe auf unseren CA konzentrieren; darum wäre es wohl am besten, wenn unser Experte in den Untergrund ginge.«
Die anderen legten automatisch Protest ein; Lindsay machte sie mit seinem Veto mundtot. »Es kann nicht immer und ewig Queens und Wellsprings geben. Ihr müßt lernen, eurer eigenen Stärke zu vertrauen. Ich tu das.«
»Aber wohin wirst du gehen, Kanzler?«
»Wo man mich zu allerletzt erwartet.« Er lächelte. »Dies hier ist schließlich nicht die erste Krisis, die ich erlebe. Ich habe eine Menge davon mitgemacht. Und wenn sie über mich hereinbrechen - bin ich jedesmal davongelaufen. Jahrelang habe ich euch gepredigt ... euch aufgefordert, euer Leben einzusetzen ... Und die ganze Zeit über war ich mir bewußt, daß einmal dieser Augenblick kommen würde. Ich habe nie gewußt, wie ich mich verhalten würde, wenn der Traum seinen kritischen Punkt erreicht. Würde ich den Schwanz einziehen und Sundog werden, wie ich das eigentlich immer getan habe? Oder würde ich mich stellen, mich einsetzen? Nun, der Augenblick ist da. Ich muß meiner Vergangenheit die Stirn bieten, ebenso wie ihr es tun müßt. Ich weiß, wie ich euch zu eurem Wunder verhelfen kann. Und ich schwöre euch hier und jetzt, ich will es tun.«
Eine plötzliche lähmende Angst überfiel Gomez. Seit vielen Jahren hatte er bei Lindsay keine derartige feste Entschlossenheit erlebt. Plötzlich fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Lindsay zu sterben beabsichtige. Er kannte Lindsays Pläne nicht, aber ihm wurde in diesem Augenblick klar, daß jetzt die höchste Entscheidung im Leben des alten Mannes fallen mußte. Es würde durchaus zu ihm passen, auf dem Gipfelpunkt des Geschehens seinen Abgang zu machen, mit den Schatten zu verschmelzen, solange noch der Glorienschein des Unbekannten um ihn leuchtete. »Kanzler«, sagte Gomez. »Wann können wir mit deiner Wiederkunft rechnen?«
»Ehe ich sterbe, werden wir die Engel von Europa sein. Und wir treffen uns im Paradiesgarten wieder.« Lindsay pedalte die versiegelte Tür der Kammer auf; aus den Freisturzschächten draußen drang der plötzliche Schwall einer großen lärmenden Menge. Dann fiel der Türdeckel dumpf wieder zu. Lindsay war fort. Es trat ein schwer lastendes Schweigen ein.
Der Abgang des alten Mannes hatte Leere hinterlassen. Die anderen saßen stumm da und machten sich mit dem Geschmack des Verlustes vertraut. Stumm blickten sie einander an. Und danach, in einem synchronen Impuls, schauten
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