Schumacher, Jens - Deep
Kontinentalhänge bilden die gewaltigsten Berghänge unseres Planeten, mächtiger als jedes Gebirge an der Oberfläche.«
Henry versuchte, sich ein so riesiges Massiv vorzustellen, doch das einzige Bild, das ihm in den Sinn kam, war die himmelhohe Wand aus Stein und Eis, die er wenige Monate zuvor in der Antarktis gesehen hatte. Ihn schauderte. Um das unangenehme Bild loszuwerden, richtete er seinen Blick durch die Scheibe und beobachtete Becca dabei, wie sie an Deck die wissenschaftliche Ausrüstung der Massai in Augenschein nahm.
»Natürlich gibt es innerhalb der Kontinentalhänge auch flachere Abschnitte. Und jede Menge riesiger Canyons«, ergriff McKenzie erneut das Wort. »Dort scheint unser Wrack in einer Spalte festzuklemmen.«
»Und erst am Fuß dieser Hänge liegt der eigentliche Meeresboden?«, hakte Henry nach.
McKenzie nickte. »Dort unten, so tief, dass kein Lichtstrahl mehr hinunterreicht, existiert eine wahre Mondlandschaft: Täler, Hügel, Ebenen, Gebirgszüge, Hochflächen, was du willst. Und alles ist viel gewaltiger als hier oben! Die Berge sind höher, die Schluchten tiefer … der mittelozeanische Gebirgszug zum Beispiel, eine Bergkette von über sechzigtausend Kilometern Länge. Sechzigtausend verdammte Kilometer!«
»Oder der Marianengraben«, erinnerte sich Henry. »Mit über elftausend Metern die tiefste Schlucht der Erde.«
McKenzie bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick. »Ich sehe, du bist gut informiert. Ja, dort unten liegen die letzten unerforschten Regionen dieses Planeten. Eigentlich eine Schande -drei Viertel dieses Planeten sind mit Wasser bedeckt, und gerade mal zwei Prozent des Meeresbodens haben wir bis jetzt erforscht. Verdammt erbärmliche Quote, wenn man bedenkt, dass wir beispielsweise den Mond bis auf den letzten Quadratzentimeter kennen. Dabei ist der Meeresgrund ein wahres Paradies, nicht nur für Ozeanologen. Die Sedimentschicht dort unten besteht aus abgelagertem Schlamm, vulkanischem und meteorologischem Staub, Wüstensand, Geröll aus Gletschern, die vor Jahrmillionen in die Meere gewandert sind, dazu Schalen winziger Einzeller aus nahezu jeder Phase der Erdgeschichte – ein Fest für Geologen und Meteorologen.«
»Wo liegt das Problem? Warum forscht man nicht intensiver?« Henry runzelte die Stirn.
»Weil es nicht möglich ist«, antwortete McKenzie. Er öffnete ein Fach neben dem Funkgerät und brachte ein Kästchen aus Zedernholz zum Vorschein, dem er eine fingerdicke Zigarre entnahm. Gekonnt biss er die Spitze ab, und Sekunden später durchzogen dicke Rauchschwaden den Steuerstand. »Die Erforschung der Tiefsee stellt selbst heute noch eine Herausforderung dar. Auch wenn sich die Technik auf diesem Sektor seit dem guten Dr. Beebe und seiner Tauchkugel glücklicherweise ein bisschen weiterentwickelt hat.« Er paffte genüsslich und blies eine Rauchsäule zur Decke hinauf. »Beebe unternahm anno 1930 mit seiner Bathysphäre, einer Art Tauchkugel aus Stahl, die an einem Seil abgelassen wurde, den ersten erfolgreichen Tieftauchversuch. Er schaffte über sechshundert Meter – und kam sogar lebendig zurück! Der nächste Meilenstein war die Trieste, die legendäre Bathysphäre von Auguste Piccard. Sie besaß bei ihrem Stapellauf anno 1948 bereits einen elektrischen Antrieb und konnte frei unter Wasser manövrieren. 1960 drang Piccard damit in eine Tiefe von über zehntausendneunhundert Metern vor und hielt damit lange den Weltrekord.«
»Bis letztes Jahr«, fiel ihm Henry ins Wort. »Dann unterbot James Cameron seine Bestmarke um einige Dutzend Meter.« Wie die meisten seiner Mitschüler hatte auch er den Pressewirbel um die Rekordtauchfahrt des Titanic -Regisseurs in Internet und Fernsehen verfolgt.
McKenzie verzog das Gesicht. »Und was lernen wir daraus?
Heutzutage muss man offenbar ein berühmter Regisseur und Multimillionär sein, um ein Hightech-Gerät wie die Deepsea Challenger benutzen zu dürfen.« Er schnaubte verächtlich und spuckte einige Tabakkrümel aus. »Abseits solcher medienwirksamen Events ist die Erforschung der Tiefsee leider etwas weniger glamourös. Kaum jemand investiert noch etwas in die Wissenschaft.« Er starrte versonnen in die Ferne. »Früher, zu Kriegszeiten, wurden regelmäßig bedeutende Erfindungen gemacht. Es gab technische Neuerungen am laufenden Band, ein wahrer Segen für die Wissenschaft …«
»Schon klar, Gordon.« Henrys Vater legte dem Biologen schmunzelnd eine Hand auf die Schulter. »Du wünschst dir also
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