Schwarzwaelder Dorfgeschichten
Zwiespältigkeiten der Geschichte und der Bildung; es däuchte ihn eine Versündigung, sie durch alle die Labyrinthe zu quälen, ohne sicher zu sein, daß sie den jenseitigen Ausgang finde, der wiederum zur freien Natur führt – sie stand ja von selber darin, Anfang und Ende sind hier eins. Er behauptete, daß die Menschen zu allen Zeiten das ursprünglich Vollkommene, was ihnen in einem Menschen nahe tritt, martern und kreuzigen und zu Tode quälen, weil das Dasein des absolut Vollkommenen, des Urmenschen, der nichts will und nichts hat von dem ganzen Trödel, den die Menschheit nachschleppt, dieser ein Gräuel sein muß. Und doch muß die Geschichte von Zeit zu Zeit wiederum erfrischt und begonnen werden von solchen ersten Menschen , die aus dem Urquell des Lebens vollendet erstehen.
Der Collaborator wußte wohl, daß Lorle solchem höchsten Ideale nicht entspreche, aber er hatte eine fast abgöttische Verehrung für die Urthümlichkeit ihres Wesens, gegenüber dem Unfertigen, Ringenden und Halben der Civilisation, ihm hatte der vielverbrauchte Ausdruck, daß sie ein Kind der Natur sei, eine tiefere Bedeutung: er erfand diese Bezeichnung wiederum für sie.
Reinhard bestrebte sich, Lorle und Leopoldine miteinander zu befreunden, er brachte sie oft zu dieser; Lorle war's aber immer unheimlich. Leopoldine hatte die überfließende Redefertigkeit einer Ladenfrau, sie konnte Alles, was sie im Sinn hatte ohne Scheu aufzeigen, wie ehedem ihre Haubenmuster; dabei hatte die Vielgeprüfte etwas Entschlossenes, das sie namentlich ihrem Bruder gegenüber in einer Weise geltend machte, daß es Lorle in der nunmehrigen Zaghaftigkeit ihres Gemüthes wie Schärfe und Härte erschien.
Ueber eine Bemerkung Lorle's freute sich Reinhard einst übermäßig; sie gingen von Leopoldine weg und Lorle sagte: »Ach was schöne Blumen hat die, und so im Winter.«
»Du sollst auch solche haben.«
»Nein, ich mag nicht, ich mein' ich könnt' und ich dürft' mich nicht so freuen, wenn's wieder Frühjahr wird, weil ich so gezwungene Blumen vorher in der Stub' gehabt hab', eh' sie draußen sind. Laß mich lieber warten.«
Reinhard war von dieser Aeußerung so entzückt, daß er wieder einen ganzen Tag der Liebevolle von ehedem war.
An den vielen kleinen Sächelchen auf dem Nipptisch Leopoldinens freute sich einst Lorle wie ein Kind; als ihr Reinhard versprach, auch solche Sachen zu kaufen, sagte sie: »Nein, ich möcht' lieber was Lebiges haben; wenn wir einen Stall hätten, möcht' ich eine Geis oder ein paar Schweinchen haben, oder in meiner Stub' Turteltauben oder einen Vogel.«
Am andern Tage nahm Reinhard die Bärbel mit als er ausging und brachte einen Kanarienvogel in schönem Käfig und Goldfischchen in einem Glase. Lorle war voll Freude und Reinhard erkannte auf's neue, wie leicht dieses anspruchslose Wesen zu beglücken war.
Eines Abends, als Reinhard zum Maskenball beim Minister der Auswärtigen geladen war, ging Lorle in die Theevisite zu Leopoldinen. Auf dem Wege sagte sie zur begleitenden Bärbel: »Ich wollt', ich könnt' bei dir daheim bleiben: ich komm' mir oft vor wie ein Waisenkind, das unter fremden Leuten herumgeschubt wird.« –
Die Bärbel tröstete so gut sie konnte.
Lorle trat zitternd in die Stube. Die Frau Professorin Reinhard, die Kammersängerin Büsching, Frau Oberrevisorin Müller, Frau Handschuhfabrikantin Frank; so stellte Leopoldine die Anwesenden vor. Die Frau Oberrevisorin warf stolz den Kopf zurück, ihr gebührte es, vor der pensionirten Kammersängerin vorgestellt zu werden. Die alte Sängerin unterhielt sich schnell mit Lorle und bald war sie auf ihrem Lieblingskapitel, indem sie von ihren ehemaligen Triumphen erzählte und daß sie die erste hier in der Stadt war, die die Emmeline in der Schweizerfamilie gesungen. Ihre Bemerkung gegen Lorle, daß sie auch Volkslieder sehr liebe, wurde schnell verdeckt, denn nun öffneten sich die Schleußen der Unterhaltung und Alles auf einmal sprach vom Theater, d.h. von dem Haushalt der Schauspieler und Sänger und ihren Liebesbeziehungen. Unversehens lenkte sich das Gespräch auf den heutigen Maskenball. Die Frau Handschuhfabrikantin (deren ganzes Personal, aus dem Ehepaar und einem Lehrling bestehend, Leopoldine zur Fabrik erhoben hatte) konnte die intimsten Nachrichten davon preisgeben; sie klagte nur, daß wenn die Fremden, die Engländer, nicht wären, man wenig Handschuhe mehr verkaufte; sonst habe »ein nobler Herr« zwei bis drei Paar an einem
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