Sean King 03 - Im Takt des Todes
oder, Viggie? »Nehmen wir mal an, du hättest eine beste Freundin, mit der du alles machst. Jetzt nehmen wir mal an, diese Freundin ist weggezogen und du würdest sie niemals wiedersehen. Wie würdest du dich fühlen?«
Viggie blinzelte ein paarmal. Dann blinzelte sie so heftig, dass ihr Gesicht sich verzerrte. Horatio hatte das Gefühl, einem Computer dabei zuzuschauen, wie das Motherboard überhitzte.
»Wie würdest du dich fühlen, Viggie?«, wiederholte er.
»Da sind keine Zahlen in dem Problem«, sagte sie verwirrt.
»Ich weiß, aber nicht alle Fragen haben mit Zahlen zu tun. Wärest du glücklich, traurig, zwiegespalten?«
»Was heißt zwiegespalten?«
»Dass du nicht genau weißt, wie du darüber denken sollst.«
»Ja«, sagte sie.
»Und was ist mit traurig?«
»Traurig. Ich wäre traurig.«
»Aber nicht glücklich?«
Viggie schaute zu Alicia. »Da sind keine Zahlen in dem Problem.«
»Ich weiß, Viggie. Versuch es trotzdem.«
Viggie zuckte mit den Schultern und biss in den Apfel.
Horatio machte sich noch ein paar Notizen. »Hast du darüber nachgedacht, wie es war, als du deinen Vater das letzte Mal gesehen hast?«
»Warum wäre ich nicht glücklich?«, fragte Viggie unvermittelt.
»Du wärst nicht glücklich, weil deine Freundin weggezogen ist. Man redet mit seinen Freunden, macht Spiele mit ihnen. Wenn deine beste Freundin wegziehen würde, könntest du das nicht mehr«, erklärte Horatio. »Du hast sicher auch mit deinem Vater tolle Sachen gemacht, ehe er weggegangen ist, oder nicht? Jetzt gibt es keine tollen Sachen mehr mit ihm.«
»Monk ist weggegangen«, murmelte Viggie.
»Ja. Hast du Spaß mit ihm gehabt, als du ihn das letzte Mal gesehen hast?«
»Viel Spaß.«
»Was genau?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Ist es ein Geheimnis? Geheimnisse machen Spaß. Hattest du viele Geheimnisse mit Monk?«
Viggie senkte die Stimme und rückte näher zu Horatio heran. »Es war alles geheim.«
»Und du kannst es niemandem sagen, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Aber du könntest, wenn du wolltest.«
»Ja, wenn ich wollte.«
»Und, willst du?«
Zum ersten Mal zeigte Viggie so etwas wie ein Zögern. »Ich müsste es auf geheime Art sagen.«
»Du meinst, wie ein Code? Ich fürchte, davon verstehe ich nicht viel.«
»Monk hat Codes geliebt. Er hat Geheimcodes geliebt. Es hat ihn blutig gemacht. Das hat er mir gesagt.«
Fragend schaute Horatio zu Alicia, die ebenfalls verwirrt zu sein schien.
Horatio fragte: »Es hat ihn blutig gemacht? Was meinst du damit, Viggie?«
Sie lächelte und echote: »Was meinst du damit?«
»Viggie, was hat Monk damit gemeint, als er gesagt hat, die Codes hätten ihn blutig gemacht?«
»Ja, genau das hat er gesagt. Codes haben ihn blutig gemacht. Codes und Blut, das hat er gesagt.«
Horatio lehnte sich zurück. »War Monk blutig, als du ihn das letzte Mal gesehen hast?«
»Ja«, antwortete sie glücklich.
»Dann hat er dir also ein Geheimnis erzählt, ja?« Viggie nickte erneut. »Kannst du uns sagen, was es ist?«
Ihr Lächeln verblasste, und sie schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? War es ein Supergeheimnis?«
Alicia sagte sanft: »Viggie, wenn du irgendetwas weißt, ist es sehr wichtig, dass du es uns sagst.«
»Ich glaube nicht, dass ich ihn mag«, erwiderte Viggie und deutete auf Horatio. »Ich muss jetzt gehen.« Sie stand auf und verließ das Zimmer.
Horatio blickte zu Alicia, die bis jetzt den Atem angehalten hatte. »Ich haben Ihnen ja gesagt, dass sie eine harte Nuss ist. Haben Sie irgendetwas Brauchbares erfahren?«
»Ich kenne sie besser als noch vor einer Stunde«, antwortete Horatio. »Das ist wenigstens etwas.«
»Nun, wenn Sie Viggie das nächste Mal sehen, könnte sie jemand vollkommen anderes sein.«
Nachdem Alicia gegangen war, rief Horatio Sean an und berichtete ihm von der Sitzung.
»Und? Ist Viggie tatsächlich autistisch?«, fragte Sean.
»Autismus ist ein recht umfassender Begriff«, antwortete Horatio. »Jedenfalls … ich glaube nicht, dass sie autistisch ist.«
»Was dann?«
»Ich glaube, in gewisser Weise ist sie so viel klüger als wir anderen, dass sie es uns nicht einmal verständlich machen kann. In anderer Hinsicht wiederum ist sie nicht sehr intelligent und für ihr Alter auch nicht weit entwickelt. Es könnte sich um ein Wahrnehmungsproblem handeln. Unser Wahrnehmungsproblem. Wir erwarten, dass ihre emotionalen Fähigkeiten ihrem Intellekt entsprechen, aber sie ist noch ein kleines Mädchen. Und was ihren
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