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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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sich so wohl wie lange nicht mehr. Dies war ein besonderer Moment, das spürte er ganz deutlich. Etwas Spezielles war geschehen, zwischen Florence und ihm; ein Zauber lag über ihnen, hier an diesem Ort im Irgendwo. Zacharias fragte sich nicht nach dem Wie und Warum, denn er fürchtete, den Zauber damit zu zerreißen. Er genoss ihn einfach, und während er dastand, von Kälte umgeben und doch von ihr unerreicht, kroch ein verräterischer, heimtückischer Gedanke in seinem Kopf nach vorn. Wenn wir zurückkehren, erwarten mich ALS und Rollstuhl, flüsterte dieser hinterhältige Gedanke. Dann bleibt dies alles ein Wunschtraum.
    Er schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken zu vertreiben, kehrte ins Bett zurück und schloss die Augen, doch es dauerte eine Weile, bis der Schlaf zurückkehrte.
    Die Hütte stand auf einem breiten, flachen Felsvorsprung, wie eine Plattform, die aus dem Bergrücken ragte. Sie schmiegte sich an den steilen, eisverkrusteten Hang, vor dem der Wind den Schnee angehäuft hatte, stellenweise bis zum Dach hinauf. An diesem kalten Morgen stieg der Rauch aus dem Schornstein gerade hoch, in unbewegter Luft.
    »Wir hätten gestern Abend in die Tiefe stürzen können«, sagte Zacharias dumpf. Sie standen am Rand des Felsvorsprungs; dicht vor ihnen ging es etwa einen Kilometer weit in die Tiefe. Und dort unten, in einer weiten Ebene und vom Schnee unberührt, blickte ein gewaltiges Gesicht aus ockerfarbenem Stein gen Himmel. Seine Ausmaße ließen sich kaum abschätzen. Allein die leicht schräg stehenden Augen mochten Hunderte von Metern durchmessen, die lange, gerade Nase etwas weiter unten war wie ein Berg und der Spalt zwischen den Lippen ein tiefes, dunkles Tal. »Wenn wir im Schneetreiben die falsche Richtung eingeschlagen hätten, lägen wir jetzt vielleicht dort unten.«
    Sie trugen beide warme Sachen aus dem gut gefüllten Kleiderschrank der Hütte: Hosen blau wie Jeans, aber aus einem dickeren Stoff, der die Kälte fernhielt, Flanellhemden und darüber gefütterte Jacken.
    »Als ich hierhergekommen bin, waren Wind und Schneetreiben noch nicht so stark. Ich habe die Hütte sofort gesehen.« Florence deutete nach unten. »Eindrucksvoll, nicht wahr? Wie viele Steinmetze sind dort an der Arbeit gewesen, und wie lange?«
    »Vielleicht nicht ein einziger«, erwiderte Zacharias nachdenklich. Wenn er Florence ansah, kehrte etwas vom Zauber der vergangenen Nacht zurück, aber nur ein wenig. Der Rest war eine schöne, kostbare Erinnerung. Momente ließen sich nicht festhalten. Einer folgte auf den anderen, und dieser besondere Moment ging jetzt zu Ende, denn an diesem Ort konnten sie nicht bleiben. »Es ist Teil eines Traums.«
    »Nein«, sagte Florence leise. »Nein, das glaube ich nicht. So habe ich ebenfalls gedacht, zu Anfang, aber inzwischen sehe ich die Dinge anders. Dies …« Sie suchte nach geeigneten Worten und gab es auf. »Dies ist zu groß für einen Traum.«
    Zacharias zog die rechte Hand aus der Jackentasche. »Sieh dir das hier an. Der Kratzer ist nicht mehr da. Und im Saal sind die Spiegel gefallen und zerbrochen, weil ich es so wollte. Ich muss mich nur noch etwas mehr eingewöhnen, dann werde ich auch mit diesem … Weltennetz fertig. Adaptation, Flo.«
    Sie bedachte ihn mit einem strengen Therapeutenblick. »Du nimmst den Mund schon wieder ziemlich voll.«
    Er grinste, und es fühlte sich gut an. »›Deine Begabung ist enorm.‹ So lauteten deine Worte. Und ich vertraue meiner Therapeutin.«
    Florence verdrehte die Augen. »Ich hätte mir denken können, dass du mir das unter die Nase reibst.« Sie deutete zur Transfersäule. »Komm, inzwischen dürften sich die Bilder verändert haben, und da du ein so unglaublich guter Traveller bist, dürfte es dir nicht schwerfallen, uns nach Lassonde zu bringen.«
    Die Säule stand ein Stück abseits der Hütte, nur einige Schritte von der Stelle entfernt, wo sich die Tür befunden hatte, markiert von mehreren langen Scheiten, die Florence in den Schnee gesteckt hatte. Weiß wie der Schnee und etwa einen halben Meter dick ragte sie auf und endete in einer Spitze, von der ein leises Klirren kam, das Zacharias an die Spiegel im Saal erinnerte. Die Säule selbst bewegte sich nicht, aber Dutzende von Bildern wanderten über sie hinweg und wechselten in einem Rhythmus von einer knappen Stunde, wie sie inzwischen wussten. Jedes von ihnen zeigte eine andere Welt, und sie alle hatten den synästhetischen Geschmack von Übergängen.
    »Nun?«, fragte

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