Seelenfeuer
Johannes hatte sie im Lauf der vergangenen Tage kennengelernt und nickte ihnen zu.
»Keine gute Zeit, in der wir leben!«, murmelte Eppo und bekreuzigte sich beim Anblick der in Leinen gewickelten Leichname. »Der Adlerwirt behauptet sogar, der schwarze Tod soll bereits im Gefängnis logieren! Bei Gott, wenn das wahr ist! Dann kann sich auch der Henker seine Arbeit bald sparen. Der heilige Sebastian stehe uns bei, wenn die da«, dabei reckte
Eppo sein unrasiertes Kinn in Richtung des Pestkarrens, der die Gasse hinunterrumpelte, »die Toten bald auch aus dem Kerker schleppen müssen!«
»Was hast du gesagt? Wer muss die Toten aus dem Kerker schleppen?« Johannes’ Stimme klang ruppiger als beabsichtigt. Er hatte Eppos Geschwätz keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Außerhalb seiner Arbeit gehörten all seine Gedanken allein Luzia und einer möglichen Rettung.
»Na, die städtischen Pestknechte. Die armen Teufel. Offenbar hat es dem Allmächtigen gefallen, seine Geißel auch in den Gefängnisturm zu schicken. Kein Wunder bei dem Gesindel, das dort unten sitzt!«, presste der Knecht hervor.
Die Pest im Grünen Turm!, dachte Johannes und begann einen neuen Faden in seine Überlegungen einzuweben. Bis sie in der oberen Marktstraße ankamen, überschlugen sich seine Gedanken. Wenn Eppo die Wahrheit gesagt hatte …
Als Johannes die Schlafkammer der Hofmeisters betrat, hustete die Frau des Fernhändlers bereits unter unsäglichen Schmerzen große Mengen eines schwarz-blutigen Auswurfs ab. Am Auswurf und an den blauverfärbten Lippen der Kranken erkannte Johannes gleich, dass es sich diesmal um die Lungenpest handelte. Sie galt als eine noch mörderischere Form der gefürchteten Krankheit. Hier war es nicht die Sepsis, welche den Patienten das Leben kostete, sondern eine Lungenentzündung, die mit grausamster Atemnot unabdingbar zum Tod führte. Friko Hofmeister fiel bei Johannes’ Worten sichtbar in sich zusammen.
Alles, was Johannes für Irma Hofmeister noch tun konnte, bestand darin, ihre Schmerzen und ihre Atemnot ein wenig
zu lindern. Deshalb verabreichte er in großzügigen Mengen Mandragoraessenz und schob ihr sämtliche Decken und Felle in den Rücken.
Stunden später, als Hofmeisters Frau verstorben war, glich der wohlhabende Kaufmann einem Häuflein Elend. Er weigerte sich strikt, den Medicus gehen zu lassen. Stattdessen ließ er immer mehr Branntwein bringen, um den Schmerz zu betäuben. Johannes hielt ihn nicht davon ab. Wer wusste schon, ob er morgen noch am Leben war?
Der Abend dämmerte bereits, als Hofmeister und Johannes endlich das Herrenhaus in der oberen Marktstraße verließen. Der Fernhändler war nicht davon abzubringen, seine Irma selbst vor die Tore der Stadt zu begleiten.
»Wenn sie schon kein anständiges Begräbnis bekommen soll, sondern in dieser … dieser«, ihm fehlten die Worte, doch Johannes verstand ihn auch so. Hofmeister bettete den in Leinen gewickelten Leichnam mit Johannes’ Hilfe auf den Rücken seines Pferdes.
Obwohl die Schließung der Tore bevorstand, ließen die Wachen sie ungehindert das Frauentor passieren. Um den schwarzen Tod machte jeder einen großen Bogen.
Als sie die Stadt wieder betraten, war Johannes erleichtert, als sich der Fernhändler gleich hinter dem Tor verabschiedete und sich ihre Wege trennten. Hofmeister trieb es die Judengasse hinunter, während Johannes seinen Weg über den Marktplatz lenkte.
Seit er mit Eppo gesprochen hatte, drängte sich ihm ein gewagter Gedanke auf, der mittlerweile noch wagemutiger geworden war. Neue Möglichkeiten taten sich vor seinen Augen auf. Johannes beschleunigte seinen Schritt.
Aus dem Goldenen Lamm drang Lärm auf die Gasse. Das gedrungene Fachwerkhaus schien unter den lauten Schimpftiraden des Wirts zu erzittern. Johannes hörte, wie etwas zu Bruch ging, und als wenige Augenblicke später die baufällige Tür aufschwang und Schwarzenberger vor seine Füße auf die Gasse gestoßen wurde, wäre er um ein Haar über den Wachmann gestolpert.
»Wenn du das nächste Mal wieder eine Keilerei anzettelst, lasse ich die Büttel kommen. Und dann bin ich gespannt, wie dir die Nacht im Grünen Turm schmeckt!«, rief der Lammwirt wütend, ehe er die Tür mit einem lauten Krachen ins Schloss warf.
»Nein, beim nächsten Mal steche ich dich ab!«, brüllte Schwarzenberger zornig und spuckte Richtung Tür. »Zum Teufel mit dir, du Idiot hast mich um eine Schlägerei gebracht!«
Johannes musste kein Medicus sein,
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