Seit jenem Tag
genommen.
»Okay. Ruf mich doch einfach an, wenn du kannst …«
»Nein, ich meine, ich kann nicht«, sagt er mit Nachdruck, als hätte er meiner Stimme die Kränkung angehört. »Ich kann wirklich nicht, was nicht heißt, dass ich nicht möchte.«
Und dann klärt er mich über den Grund auf. Die persönlichen Dinge aus seiner New Yorker Wohnung wurden verschifft und ins Haus seiner Familie nach Dorset gebracht, und er muss das Wochenende dort verbringen und sie aussortieren. Seine Eltern sind im Ausland, und ich stelle ihn mir in diesem düsteren Gebäudekomplex auf dem Land vor, umgeben von den Stücken seines verlorenen Lebens, die er eins um andere ans Licht halten und entscheiden muss, ob es ihm genug bedeutet, um einen Schnitt zu machen. Eine wirklich schreckliche Vorstellung.
»Ich hätte das alles schon dort tun sollen, aber …« Wieder lässt er den Satz unvollendet im Raum stehen.
»Das muss schrecklich für dich gewesen sein in dieser Wohnung.«
»Wir haben es versucht, aber es hat mich überfordert. Wir haben die Flucht ergriffen und sind bei Mara und Richie geblieben, die sich dann auch darum gekümmert haben, dass alles verpackt wurde. Sie waren unglaublich.«
Wenn ich daran denke, wie sich bei meiner Begegnung mit Mara alles gesträubt hat, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, dass ich selbst nach Sallys Tod noch um ihre Zuneigung wetteifere. Sie hatte versprochen, für die beiden da zu sein, und Wort gehalten.
»Sag es ruhig, wenn ich mich da raushalten soll, William, aber … ich könnte dir helfen.« Die Worte sind mir herausgerutscht, bevor ich mir über ihre Bedeutung Gedanken machen konnte. Ich halte angespannt inne und frage mich, ob ich nicht wieder zu weit gegangen bin. Er sagt nichts, doch ich höre ein Klicken. »Rauchst du?«
»Schon möglich«, sagt er und nimmt einen Zug. »Das ist ein sehr freundliches Angebot von dir, aber du musst das nicht tun.«
»Das weiß ich.«
Er kann es annehmen oder es sein lassen.
März 1996
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, und ich streckte eine Hand nach dem Tresen aus, um Halt zu finden. Er trug einen Hut, einen leicht schräg aufgesetzten marineblauen Filzhut, den er irgendwie absetzte, und ein Jackett, das viel modischer war als alles, worin ich ihn bisher gesehen hatte.
»Jetzt umarm mich endlich«, sagte er, »ich bin durch halb Großbritannien gereist, um hierherzukommen.«
Er starrte mich an und wartete darauf, dass ich den Abstand zwischen uns verringerte, wobei sein anerkennender Blick nicht zu übersehen war. Ich kannte ihn zu gut, wusste, dass er, obwohl er wahrlich kein schmieriger Typ war, doch nicht umhinkonnte, jede sich ihm bietende Situation abzuwägen – er war einfach zu jung, zu gut aussehend und zu geil, um sich auch nur eine Runde der Nummernrevue entgehen zu lassen. Er war kein schlechter Kerl, er war Opportunist, und erst jetzt, von meinem privilegierten Blickwinkel aus, konnte ich mir eingestehen, dass ich ihm früher niemals ein ernstzunehmendes Signal entlockt habe. In seinen Augen las ich, was ich bereits wusste – dass die Livvy, die vor fünf Monaten ihren Rucksack mit dem Greenpeace-Button gepackt hatte, nicht mehr existierte. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und drückte mich an ihn, wobei mein ganzer Körper Funken sprühte, als ich ihn spürte. Eins hatte sich jedoch nicht geändert. Ich löste mich von ihm, so schnell es mir möglich war, und hatte sofort Schuldgefühle.
»Ich fass es nicht, dass du gekommen bist!«, sagte ich. »Das ist Matt, mein Freund« , ich wandte mich ihm zu, und er grinste unbeholfen, ohne sich einen Schritt zu bewegen, »und das ist Sally.«
Sally war aus dem Häuschen, als sie sah, wie ihr Plan funktionierte.
»Mir kommt es vor, als hätten wir uns bereits kennengelernt«, lachte sie und küsste ihn auf beide Wangen und drückte ihm so den Abdruck ihres pflaumenfarbenen Munds auf. Er betrachtete sie meinem Empfinden nach ein wenig zu lang, obwohl ich ihm das nicht verdenken konnte. Sie war wieder dünn und trug ein bodenlanges grünes Neckholder-Etuikleid, das Haar raffiniert hochgesteckt: In Kombination mit dem dicken geschwärzten Lidstrich strahlte sie einen Retroglamour aus, der fast gekünstelt wirkte und ihre Fähigkeit, durch ihr Outfit alle Blicke auf sich zu ziehen, mehr denn je hervorhob. Hätte man ahnungslos den Raum betreten, würde man zweifellos darauf wetten, dass sie das Geburtstagskind war.
»Wie hast du das gemacht!?«, fragte ich und
Weitere Kostenlose Bücher