Sie waren zehn
zu in unmittelbarer Nähe der Hauptkampflinie einzugreifen und den Luftraum sauberzuhalten. Ins Hinterland drang sie nicht mehr vor. Wozu auch? Die wenigen einsatzbereiten Maschinen konnten weder den Truppenaufmarsch noch den Nachschub wesentlich behindern, und wenn sie einen Güterzug sprengten – was soll's? Der nächste Zug folgte in wenigen Minuten, man kippte die zerbombten Wagen vom Bahndamm, säuberte die Geleise von den Trümmern, trug die Toten zur Seite und gab die Strecke wieder frei. Fahrt zu, Brüder! Es war nur ein Mückenstich. Spürt so etwas ein großer Bär? Gute Fahrt, ihr Lieben! Entschuldigt die kleine Unterbrechung …
Die Weite des Landes ist seine beste Waffe, dachte Duskow. Was gilt hier schon ein einzelner Mensch? Selbst wenn er mit einem ganzen Regiment abgesprungen wäre – sie wären nicht viel mehr gewesen als ein vom Stiefel geschüttelter Batzen Dreck. Ein verlorener Haufen, den das Land aufsaugen würde wie der Schwamm einen Wassertropfen. Nein, Rußland war unbesiegbar. Dieses Land hätte es bei einer Kriegsdrohung einfach haben können: Es hätte nur einen Diplomaten zu der kriegslüsternen Regierung zu schicken brauchen, mit nichts als einer Landkarte … Das hätte genügen müssen.
Aber anscheinend können Politiker keine Landkarten lesen oder kennen sich in den Größenordnungen nicht aus. Rußland endet nicht bei Moskau oder am Ural. Dort fängt es erst an. Aber was Napoleon nicht begriff – wie soll es Hitler verstehen?
Duskow streckte sich aus und blieb unter dem Baum liegen, bis es dämmerte. Der Nachthimmel löste sich in Streifen auf, färbte sich blaßblau, unterbrochen von gelblichen Fäden. Ein schöner Sommertag begann. Duskow kaute an einem dünnen Ast. So einen Himmel gibt es nur über Rußland, dachte er. Das glaubt einem keiner, der es nicht selbst erlebt hat. Himmel ist Himmel, wird jeder sagen. Was ist da schon für ein Unterschied? Mal ziehen dicke Wolken darüber, mal dünne, mal ist er blank geputzt, mal verhangen; wenn es regnet, sieht er wirklich zum Weinen aus, und wenn die Sonne brennt, nennt man ihn gerne ›unbarmherzig‹. Und nachts, bei klarem Wetter, na, ich bitte euch … da ist jeder Himmel voller Faszination. Ob im Norden oder Süden – das millionenfache, unbegreifbare Gefunkel macht andächtig, auch wenn man zu Gott noch so schief sieht. Übrigens der Norden – die haben auch noch ihr Nordlicht! Wieso, frage ich, ist da der russische Himmel einmalig? Darauf kann man keine Antwort geben, das muß man fühlen, mit der ganzen Seele aufsaugen, das leere Herz damit füllen, das denkende Hirn verzaubern … Nur wer stundenlang auf dem Rücken liegen und in diesen Himmel blicken kann, wer keine Zeit mehr zählt und glücklich ist, mit dieser Unendlichkeit eins zu sein – nur der begreift, warum die Kosaken sagen: Deck dich zu mit deinem Himmel …
Als die Sonne golden in das Blau hineinschwamm und der Waldboden herb zu duften begann, machte sich Duskow auf den Weg nach Alexandrow. Er erreichte eine halbwegs befahrbare Straße, einen Lehmweg, den Karrenspuren durchfurchten, blieb stehen, untersuchte seine Kleidung, ob noch Spuren der Landung und des Waldbodens an ihr waren, klopfte ein paar Schmutzstellen aus und setzte dann seinen Weg fort.
In einer sanften Senke tauchten die ersten Bauernhäuser auf: strohgedeckte Hütten, umgeben von kleinen, mit Knüppelholz eingezäunten Gärten. Hundegebell und Hühnergegacker drangen zu ihm hinüber. Auf einer viel zu kleinen Koppel galoppierte ein schönes Pferdchen unruhig hin und her, stieg mit Kopf und Brust gegen den Lattenzaun und wieherte ab und zu hell und fordernd. Die bemalten Klappläden waren noch vor die Fenster gezogen. Tau glitzerte auf den grob geschnitzten Dachsimsen.
Ist noch sehr früh, dachte Duskow. Um diese Zeit ist kein Wanderer unterwegs. Man kann sich verdächtig machen, wenn man jetzt schon auftaucht. Er setzte sich auf einen gefällten Baumstamm am Waldrand, wischte den Schmutz von den Schuhen mit feuchtem Gras ab und drehte sich bedächtig eine Papyrossa aus grob gehacktem Tabak und Zeitungspapier.
Hunger habe ich. Das ist es. Der Magen dreht sich fast um bei dieser Zigarette. Wann habe ich das letztemal die Zähne zum Kauen bewegt? Vor vierzehn Stunden!
Im Flugzeug hatte er es abgelehnt, etwas von der Schokolade zu nehmen, die ihm der junge Leutnant angeboten hatte. Denkt an die Kleinigkeiten, hatte von Renneberg immer wieder gemahnt. Auch Mundgeruch ist ein Verräter.
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