Sonnensturm
Armee hat wirklich ein paar Anomalien meines
körperlichen Zustands festgestellt, die sie sich nicht
erklären kann. Deshalb hat man mir auch Urlaub gegeben. Das
ist zumindest ein Indiz. Und dann wäre da noch das Prinzip
des Mittelmaßes.«
Das rüttelte Siobhan auf.
»Mittelmaß?«
»Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ist das nicht die
Bezeichnung, die Sie verwenden? Die Lehre des Kopernikus. Es
sollte nichts Auffälliges an einer gegebenen Position in
Raum und Zeit geben. Und wenn man eine logische Kette hat, die
zeigt, dass es doch etwas Auffälliges an einem gegebenen
Zeitpunkt gibt…«
»Vertrauen Sie niemals auf den Zufall«, sagte
Siobhan.
Bisesa beugte sich aufgeregt vor. »Halten Sie es denn
nicht auch für den unglaublichsten Zufall aller Zeiten, dass
der Sonnensturm ausgerechnet jetzt ausbricht? Denken Sie mal
darüber nach. Die Menschheit ist gerade einmal
hunderttausend Jahre alt. Die Erde und die Sonne sind
vierzigtausendmal so alt. Wenn es sich dabei nur um ein
Naturereignis handelte, dann hätte der Sonnensturm doch in
jedem Erdzeitalter ausbrechen können. Wieso sollte die Sonne
ausgerechnet jetzt sich mausern; in diesem kurzen Moment,
wo zufällig eine Intelligenz auf dem Planeten
herumläuft?«
Zum ersten Mal im Verlauf dieses Gesprächs wurde Siobhan
nachdenklich. Schließlich waren ihr selbst schon vage
Gedanken in dieser Richtung gekommen. »Sie sagen, das sei
kein Zufall.«
»Ich sage, dass der Sonnensturm vorsätzlich
ausgelöst wird. Ich sage, dass wir das Ziel sind.«
Bisesa ließ die Worte nachhallen.
Siobhan wandte sich angesichts der Intensität ihres
Blicks ab. »Aber das ist doch alles nur graue Theorie. Sie
haben keinen konkreten Beweis.«
»Aber ich glaube, wenn Sie nach einem Beweis suchen,
werden Sie ihn auch finden«, sagte Bisesa fest. »Das
ist es, worum ich Sie bitte. Sie haben direkten Zugang zu den
Wissenschaftlern, die den Sonnensturm studieren. Sie haben alle
Möglichkeiten. Es könnte lebenswichtig sein.«
»Lebenswichtig?«
»Für die Zukunft der Menschheit. Wenn wir nicht
einmal wissen, womit wir es zu tun haben, wie können wir es
dann besiegen?«
Siobhan musterte diese engagierte Frau. Sie hatte etwas
Sonderbares an sich – etwas einer anderen Welt vielleicht,
von einem anderen Ort. Aber sie hatte auch die Klarheit und
Überzeugung eines intelligenten Soldaten. Vielleicht befand
sie sich im Irrtum, sagte Siobhan sich. Aber ich glaube nicht,
dass sie verrückt ist.
Aus einer Laune heraus griff sie in ihre Jackentasche und
brachte einen Materialfetzen zum Vorschein. »Lassen Sie
mich Ihnen zeigen, woran wir zurzeit arbeiten und mit welchen
Problemen ich mich herumschlagen muss. Haben Sie schon einmal von
einer Smartskin gehört…?«
Es war ein Prototypmuster des Materials, mit dem eines Tages
– falls alles gut ging – das filigrane
Mondglasgerüst des Schilds bespannt werden sollte. Es
handelte sich um ein komplexes Glasfasergeflecht mit Komponenten,
die bis an die Grenze des Auflösungsvermögens des Auges
detailliert waren. »Es enthält supraleitende
Drähte für die Energieübertragung und
Kommunikation. Diamantfasern, die wegen ihrer geringen
Größe nicht zu sehen sind, als strukturelle
Verstärkung. Sensoren, Kraftverstärker, Computerchips,
sogar winzige Raketenmotoren. Sehen Sie?« Der Fetzen von
der Größe eines Taschentuchs wog fast nichts; die
kleinen Raketenmotoren sahen aus wie Stecknadelköpfe.
»Wow«, sagte Bisesa. »Und ich dachte, es
würde sich nur um einen stinknormalen großen Spiegel
handeln.«
Siobhan schüttelte den Kopf. »Das wäre dann
doch zu einfach, nicht wahr? Der Schild wird nicht zur Gänze
aus einem intelligenten Gewebe bestehen müssen, aber zu
einem gewissen Teil. Er wird einem riesigen kooperativen
Organismus ähneln.«
Bisesa berührte das Material ehrfürchtig. »Und
wo liegt nun das Problem?«
»Das Problem besteht darin, dass eine nanotechnische
Fertigung der Smartskin erfolgen muss…«
Die Nanotechnik steckte noch in den Kinderschuhen. Nanotech,
ein Fertigungsprozess, bei dem einzelne Atome als Bausteine
dienten, war jedoch die einzige Möglichkeit, ein solches
Material zu fertigen – mit einer Komplexität unterhalb
der molekularen Ebene.
Bisesa lächelte. »Darf ich meiner Tochter davon
erzählen? Sie ist ein aufgeschlossenes Kind.
Nanotech-Märchen mag sie am liebsten.«
Siobhan seufzte. »Das ist das Problem. Im Märchen
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