Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
durchkämmte den Ort und machte mir dann wieder Hoffnungen, sie zu Hause anzutreffen, aber Sumire war nirgendwo zu finden. Die Sonne ging unter, und es wurde Abend. Im Gegensatz zur vergangenen Nacht war es stürmisch und die Wellen rauschten die ganze Nacht. Beim winzigsten Geräusch schreckte ich hoch, denn ich hatte die Haustür unverschlossen gelassen. Der Morgen brach an, aber Sumire war nicht zurückgekehrt und ihr Bett unberührt. Da ging ich zur Polizei am Hafen.
    Einem Beamten, der Englisch konnte, erklärte ich die Lage. Dass meine junge Begleiterin seit zwei Nächten verschwunden sei. Doch er nahm mich nicht ernst. ›Ihre Freundin wird schon wieder auftauchen‹, sagte er. ›Die jungen Leute geraten hier öfter außer Rand und Band. Es ist Sommer, und sie sind jung.‹ Am nächsten Tag ging ich wieder hin, diesmal nahmen sie die Sache schon ernster, bequemten sich aber immer noch nicht dazu, etwas zu unternehmen. Also rief ich die japanische Botschaft in Athen an und klagte einem Angestellten dort mein Leid. Zum Glück erwies er sich als sehr hilfreich. Er sagte dem Polizeichef der Insel etwas Unmissverständliches auf Griechisch, worauf endlich Ermittlungen aufgenommen wurden.
    Die Polizei fand keinerlei Anhaltspunkt. Sie befragten Leute aus der ganzen Gegend und rund um den Hafen, aber niemand hatte Sumire gesehen. Weder der Kapitän der Fähre noch der Fahrkartenverkäufer konnte sich an eine junge Japanerin erinnern, die in den vergangenen Tagen die Fähre genommen hatte. Sumire muss noch auf der Insel sein. Sie hatte ja nicht einmal das Geld für eine Fahrkarte bei sich. Aber wie ist es möglich, dass auf einer so kleinen Insel wie dieser eine junge Japanerin im Pyjama nicht auffällt? War sie vielleicht beim Schwimmen im Meer ertrunken? Die Polizei befragte ein deutsches Ehepaar mittleren Alters, das an jenem Morgen lange am Strand hinter dem Hügel gebadet hatte, aber die beiden hatten keine Spur von einer Japanerin gesehen. Die Polizei hat versprochen, weiterhin ihr Möglichstes zu tun, und ich glaube, die Beamten haben sich auch wirklich bemüht. Dennoch hat sich bis jetzt kein einziger Hinweis ergeben.«
    Miu stieß einen tiefen Seufzer aus und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
    »Da blieb mir nichts anderes übrig, als in Tokyo anzurufen und Sie herzubitten. Ich wusste nicht mehr ein noch aus.«
     
    Ich stellte mir vor, wie Sumire allein über die zerklüfteten Hügel wanderte. In einem dünnen Seidenpyjama und in Badelatschen.
    »Welche Farbe hat denn der Pyjama?« fragte ich.
    »Welche Farbe?« fragte Miu unschlüssig zurück.
    »Ja, der Pyjama, den Sumire trug, als sie verschwand.«
    »Ach so, ja. Welche Farbe? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe ihn in Mailand gekauft und noch nie angehabt. Hellgrün. Nein, eher lindgrün. Sehr leicht und ohne Taschen.«
    »Könnten Sie noch mal die Botschaft in Athen anrufen? Die sollen unbedingt jemanden herschicken. Außerdem muss sich die Botschaft mit Sumires Eltern in Verbindung setzen. Das wird zwar ein Schock für sie sein, aber Sie dürfen es ihnen nicht länger verschweigen.«
    Mit einem winzigen Nicken erklärte Miu sich einverstanden.
    »Wie Sie wissen, kann Sumire zuweilen recht extrem sein und macht dann die verrücktesten Sachen«, sagte ich. »Aber es sieht ihr nicht ähnlich, vier Tage zu verschwinden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen oder sich zu melden. Sie ist absolut zuverlässig. Wenn sie vier Tage lang verschwindet, dann gibt es dafür einen gewichtigen Grund. Welchen, weiß ich nicht, aber bestimmt einen ernsthaften. Vielleicht ist sie in einen Brunnen gefallen und wartet auf Rettung. Oder jemand hat sie entführt. Vielleicht ist sie ermordet und verscharrt worden. Einem jungen Mädchen, das mitten in der Nacht allein in einem dünnen Schlafanzug über die Berge wandert, kann alles zustoßen. Das heißt, wir müssen schnellstens etwas unternehmen. Lassen Sie es uns dennoch überschlafen, morgen wird ein langer Tag.«
    »Halten Sie es für möglich, dass Sumire Selbstmord begangen hat?« fragte Miu.
    »Natürlich können wir das nicht völlig ausschließen. Aber wenn Sumire beschlossen hätte, sich umzubringen, hätte sie ganz bestimmt einen Abschiedsbrief hinterlassen. Auf keinen Fall wäre sie spurlos verschwunden und hätte Ihnen solche Sorgen bereitet. Sie liebt Sie, und ich bin sicher, sie hätte an Sie gedacht.«
    Miu verschränkte die Arme und sah mich einen Moment lang an. »Ist das Ihre ehrliche Ansicht?«
    Ich nickte.

Weitere Kostenlose Bücher