Steels Duell: Historischer Roman (German Edition)
wenn der Beschuss beginnt, bringst du die Kinder in das Blockhaus. In das an der Sluice-Bastion. Ich komme dann dorthin. Aber erst muss ich noch zu Louise und Hubert. Wir müssen besprechen, was wir machen, wenn die Briten in die Stadt eindringen.« Er lächelte. »Und das werden sie tun. Gib acht. Ich bin gleich wieder da.«
***
Marius öffnete die Haustür und trat hinaus in die Stille des Nachmittags. Es war Samstag, der 3. Juli. Irgendwo kläffte ein Hund in einem der oberen Stockwerke, und in den anderen Straßen zogen Pferde ihre beladenen Karren über das Kopfsteinpflaster. Am Himmel kreisten Möwen und ließen ihr schrilles Kreischen ertönen, das so alltäglich war, dass es kaum jemand wahrnahm. Abgesehen von diesen Geräuschen lag die Stadt in der Stille des Nachmittags. Es war nach fünf, und bis auf die kleine Mathilde hatten alle Stadtbewohner – vom Gouverneur bis zum einfachen Mann – längst ihr Abendessen beendet und genossen nun den ausklingenden Tag. Manch einer der Händler auf dem großen Marktplatz machte ein Nickerchen in der Sommerwärme.
Marius überquerte den Grote Markt und schaute hinauf zu der französischen königlichen Standarte mit den Lilien, die am Fahnenmast auf dem Rathaus im Wind flatterte. Im Grunde seines Herzens war Marius ein gutmütiger Mensch und verabscheute die Gewalt, die sein Land immer wieder erfasste. Er hatte ein freundliches, rundliches Gesicht und braune Augen, in denen Wärme lag. Von Beruf war er Lehrer und bekannt für seine Redekunst und Freimütigkeit, aber an Sonntagen tat er nichts lieber, als mit dem Chor in der Kirche zu singen. Ansonsten versuchte er, möglichst viel Zeit mit seiner Familie zu verbringen: mit Mathilde, der dreijährigen Anna und natürlich mit Berthe.
Doch seit Kurzem regte sich ein neues Gefühl in Marius Brouwer. Er fühlte sich verpflichtet, seinen Leuten zu helfen. Wie konnte man als empfindsamer Mensch, so fragte er sich immer wieder, tatenlos zusehen, wie Fremde wieder einmal das Land verwüsteten? Daher hatten er und seine Freunde sich zu einer kleinen Gruppe zusammengefunden – zu einer Bewegung des Volkes. Nur er und eine Handvoll Leute. Sie hatten ihre Bewegung schild ende vriend getauft – Schild und Freund – in Anlehnung an die berühmte Parole, die die rachsüchtigen Bewohner Brügges 1302 benutzt hatten, um Franzosen von Flamen unterscheiden zu können. Damals, auf dem Höhepunkt der flämischen Revolte, war jeder Mann auf der Stelle hingeschlachtet worden, wenn er nicht imstande war, die zungenbrecherische Phrase richtig auszusprechen. Die Franzosen sahen sich zu Vergeltungsmaßnahmen gezwungen und waren schließlich in der »Schlacht der Goldenen Sporen«, besiegt worden, als die Elite der gepanzerten Ritter niedergemacht wurde. Natürlich beabsichtigte Marius nicht, den gegenwärtigen französischen Besatzern in gleicher Weise zuzusetzen, aber die Parole eignete sich für die kleine Gruppe und erinnerte an die richtigen Prinzipien. Vor allem an das Recht der Flamen auf politische Unabhängigkeit.
Marius würde immer von sich behaupten, dass er niemanden hasste, außer vielleicht die Franzosen und die Freibeuter in französischen Diensten, die unlängst Marius’ behütete Enklave in eine Lasterhöhle verwandelt hatten. Aber er war fest entschlossen, gegen jeden zu kämpfen, der seine Prinzipien und seine Familie bedrohte: Franzosen, Spanier, Österreicher oder Briten. Jeder, der sich anschickte, Flandern zu regieren. Für Marius konnte es nur ein Flandern geben, nämlich das Flandern, das von den Flamen regiert wurde. Inzwischen wusste man kaum noch, wem man vertrauen durfte. Vor Kurzem hatte er noch geglaubt, dass Marlborough auch wirklich meinte, was er sagte. Aber jetzt war Marius besorgt. Würden die Briten die Stadt tatsächlich mit ihren schweren Geschützen beschießen? Bei allem, was ihm heilig war, er hoffte, sie würden es nicht tun; erst letzte Nacht hatte er in der Kirche St. Martin für den Frieden gebetet. Doch in seinem Herzen war er sicher, dass es keines Gebets bedurfte. Die Briten waren zivilisierte Menschen – keine Barbaren. Oder nicht?
***
Er verließ die Nieuw Straat, bog in das Kapuzinerviertel und erreichte die Tür des Schulgebäudes, in dem er unterrichtete. Dort klopfte er zweimal, dann dreimal, worauf ihm geöffnet wurde. Ein Mann und eine Frau hielten sich in dem Raum auf, sonst niemand. Dies war das Zentrum des Untergrunds in Ostende, die Volksbewegung für eine Republik Flandern.
Weitere Kostenlose Bücher