Steh zu dir
immer wieder von Verlegern gefragt, ob er nicht seine Memoiren schreiben wolle, aber bisher war er nicht dazu gekommen. Es hatte noch so viel vor in seinem Leben! Deshalb wollte er sich auch im nächsten Jahr beruflich zur Ruhe setzen. Dann würde er endlich Zeit haben für all das, wovon er immer schon geträumt hatte – bevor es zu spät dafür war. Der Tod seiner Frau hatte ihn daran erinnert, wie kurz und kostbar das Leben war.
Über Weihnachten wollte er mit den Kindern nach Val D’Isere zum Skifahren reisen. Carole sagte bedauernd, dass sie sich wohl nie wieder auf Ski wagen würde. Sie hatte viel zu große Angst davor, bei einem möglichen Unfall eine weitere Kopfverletzung davonzutragen. Sie mussten beide daran denken, wie viel Spaß sie damals hatten, als sie gemeinsam mit Caroles Kindern Ski laufen waren. Matthieu war ein fabelhafter Skifahrer und hatte es in seiner Jugend bis ins Nationalteam geschafft.
Sie sprachen über alles Mögliche, während es draußen schon lange dunkel war. Als sich Matthieu schließlich erhob, war es fast acht Uhr, und er hatte ein schlechtes Gewissen, Carole so lange auf den Beinen gehalten zu haben.
Allmählich wirkte sie müde und brauchte offenbar dringend Schlaf. Sie stand ebenfalls auf, blickte durch die Fenster nach draußen und stieß überrascht einen kleinen Schrei aus. Es schneite. Carole öffnete ein Fenster und hielt die Hand hinaus. Sie versuchte, die Schneeflocken zu fangen, und Matthieu sah ihr dabei zu. Kurz darauf drehte sie sich zu ihm um und sah ihn mit den großen staunenden Augen eines Kindes an.
»Sieh doch nur! Es schneit!«, sagte sie glücklich. Er nickte und lächelte, während sie schon wieder hinaus in die Nacht schaute. Jede Kleinigkeit war für sie ein Ereignis, an dem sie sich erfreuen konnte. Aber so war sie immer schon gewesen. »Das ist so schön«, sagte sie ehrfürchtig. Er stand dicht hinter ihr, berührte sie jedoch nicht. Ihre Nähe ließ ihn innerlich erzittern.
»So wie du«, sagte er leise. Er war so glücklich, mit ihr hier zu sein. Das war ein kostbares Geschenk.
Sie wandte sich um und sah ihn an. Hinter ihr fielen dichte Flocken vom Himmel. »An dem Abend, als ich in das Haus zog, hat es auch geschneit … du warst bei mir … wir haben Schneeflocken gefangen und uns geküsst. Damals dachte ich, dass ich diese Nacht nie vergessen würde. Wir haben einen langen Spaziergang an der Seine gemacht, und die ganze Zeit hat es geschneit … ich trug einen Pelzmantel mit Kapuze«, flüsterte sie.
»Du hast ausgesehen wie eine russische Prinzessin.«
»Genau das hast du an jenem Abend auch gesagt.« Matthieu nickte. Sie dachten beide an den Zauber von damals, und während sie nun am offenen Fenster des Ritz standen, neigten sie sich kaum merklich einander zu und küssten sich.
16
Als Matthieu Carole am nächsten Morgen im Ritz anrief, wirkte sie angespannt. Körperlich ging es ihr zunehmend besser, aber sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und über den Abend zuvor nachgedacht.
»Das war dumm von uns … es tut mir leid«, sagte sie, sobald er seinen Namen genannt hatte. Der Gedanke an den Kuss hatte ihr seither keine Ruhe gelassen. Sie wollte mit ihm nicht wieder an den Punkt gelangen, wo sie schon einmal gewesen waren. Aber die Erinnerung an damals war so übermächtig gewesen, dass sich Carole hatte mitreißen lassen. Offenbar hatten sie beide immer noch dieselbe berauschende Wirkung aufeinander wie früher.
»Warum war es dumm?«, fragte er und klang enttäuscht.
»Weil sich die Situation geändert hat. Gestern ist gestern, und heute ist heute. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Ich werde bald abreisen und möchte dir nichts vormachen.«
Nachdem er sich verabschiedet hatte, war sie völlig durcheinander gewesen. In ihrem Kopf drehte sich alles, und das lag nicht an der Verletzung. Es lag an Matthieu und dem Wiedererwachen der alten Gefühle.
»Du hast mir nichts vorgemacht, Carole. Wenn überhaupt, dann tue ich das selbst.« Aber seine Gefühle für Carole waren alles andere als eingebildet. Er wusste, dass er nie aufgehört hatte, sie zu lieben. Für ihn hatte sich nichts geändert. Sie war es gewesen, die die Tür hinter sich schloss, und genau das versuchte sie jetzt erneut.
»Ich möchte, dass wir Freunde sind«, sagte sie streng.
»Das sind wir.«
»Das darf nicht noch einmal passieren«, verlangte sie und bemühte sich, stark zu klingen, dabei war sie sehr erschrocken. Carole wusste, wie Matthieu auf sie
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