Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
bekannt wurde, die Paracelsusdiät zu befolgen, löste das den größten Sturm der Empörung aus, den die friedliche Residenzstadt je erlebt hatte. Der Hauch eines Aufstands wehte durch die Stuben. Die Bürger zitterten um ihren geliebten Fürsten wie um ihre Eigenständigkeit. Vom Münchner Hof regiert zu werden, hieße, den Kampf der zwei bayerischen Residenzstädte um Reichtum und Pracht zu verlieren. Das durfte nicht sein! Nie wurde in dieser Adventszeit so inbrünstig gebetet, nie in der stillen Zeit so heftig debattiert. Adlige Familien stritten bei jeder Mahlzeit darüber – zur großen Belustigung des Gesindes.
Sollte man aus Solidarität mit dem Herzog den standesgemäßen Speisen entsagen? Begab man sich als Adliger dabei in Lebensgefahr? Die Bürgerlichen, ob arm oder reich, sahen die Sache gelassener. Es hatte noch keinen Hochgestellten, ob Ritter oder König, umgebracht, sich eine schöne Jungfrau von niedrigem Stand oder gar eine dralle Bäuerin ins Bett zu holen – Ludwig erwiesenermaßen noch weniger als andere. Das süße Fräulein von Leonsperg war der wandelnde Beweis. Warum also sollte der Genuss von Gerstenbrei und Rübenkraut ihm zusetzen? Doch eines war allen bewusst: Des Herzogs Zustand musste verzweifelt sein, wenn zu solch waghalsigen Maßnahmen gegriffen wurde.
Deshalb hörten Beten und Weinen nicht auf. Von der reichen Bruderschaft in Sankt Martin bis zu den siechen Armen im Spital, im abgeriegelten Blatternhaus wie bei den geschäftigen Kaufleuten der Neustadt, aus der Freyung wie den sieben Klöstern stiegen die gleichen Bittgesuche in den Himmel. Auf der Trausnitz herrschte Schockstarre in den Mägen. Angst um den Herzog hatte jedermann, aber auch davor, die nach Stand und Stellung vom Küchenmeister streng bemessenen Speisen in Menge und Qualität schwinden zu sehen. Wenn der Burgherr beim Abendessen auf seine üblichen neun Gänge verzichtete, was für eine Kettenreaktion würde das auslösen? Nur noch vier für die Grafen, Räte, Ritter, Damen und Jungfrauen am vorderen Tisch im Dürnitz? Nur noch drei für die Priester, Kämmerer und Pferdeknechte? Zwei für die Torwächter und Jäger? Nur noch ein Gang für das schwer arbeitende Gesinde? Würde der Schlaftrunk noch ausgeschenkt? Die morgendliche Suppe noch gereicht? Auf heimliche Gaben hoffte niemand. Die Küchenordnung sah vor, dass alles, was an Fleisch, Gebratenem, Gesottenem, Fisch oder anderem übrig blieb, vermerkt, aufgehoben und beim folgenden Mahl weiterverwendet werden musste. Das Fett von Rind-, Schaf- oder Schweinefleisch wurde fleißig abgeschöpft und aufbewahrt. Wiedererwärmt kam es bei nächster Gelegenheit in die bescheidenen Kraut- und Rübentöpfe sowie auf den Hafer- und Gerstenbrei, sodass frisch ausgelassenes Schmalz nicht ohne Not dazu gebraucht wurde. Nicht einmal die Fischinnereien überließ der Küchenmeister Kärgl den Katzen! Daraus machten die Köche schmackhafte Pasteten. Niemand betrat die Küche ohne Erlaubnis, kein Koch durfte etwas aus ihr weggeben. Das verspürten besonders die ewig hungrigen Kapläne und die Chorknaben. Sobald sie morgens ihre Suppe gegessen hatten, verjagten die Küchenwächter sie aus der Burg. Erst zum Singen ließ man sie wieder hinein.
Überall auf der Trausnitz herrschte dieselbe Gepflogenheit: Aus den Kellern durfte kein Fässchen herausgetragen werden, aus den Ställen kein Kännchen Milchrahm, aus der Bäckerei kein noch so bescheidener Laib Brot. Wer vom Markt oder aus dem Obstgarten mit einer Bestellung in die Burg zurückkam, eilte zum Küchenmeister und dann in den Zehrgaden, die herzogliche Vorratskammer unter dem Dürnitz. Seit Menschengedenken waren die reichen Landshuter Herzöge als großzügige, aber auch strenge Hausherren bekannt. Ihr Seelenheil bedeutete ihnen mindestens so viel wie die satten Mägen in ihrem Hofstaat. Alle Überschüsse der Burgwirtschaft speisten die Kranken im Spital, die Armen der sieben Klöster, die Pilger auf der Durchreise und das städtische Bettelvolk. Niemand machte sich etwas vor: Vom Tod bedroht, würde Ludwig seine guten Werke nicht einschränken. Man könnte sich glücklich schätzen, wenn er sie nicht erweiterte – und damit dem Burgvolk etwas nahm. Ein zweites Schreckgespenst drückte auf die vorweihnachtliche Stimmung. Was, falls der Herzog in seinem medizinischen wie büßenden Eifer die Qualität des Essens für alle verminderte?
Die Diätvorschriften des Paracelsus sprachen sich in Windeseile herum. Ein mühsam
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