Sumerki - Daemmerung Roman
Ich würde einfach nur bei mir selbst sein, anstatt wie Noah tagelang von Bord meiner Arche in die undurchdringliche Finsternis hinauszustarren.
Es war schon fast neun. Am Vortag hätte ich um diese Uhrzeit niemals gewagt, das Treppenhaus zu betreten. Doch jetzt war etwas in mir umgeschlagen. In einem seltsamen Anfall von Naivität glaubte ich auf einmal, ich bräuchte nur aus dem Spiel auszusteigen, und schon würde es von selbst aufhören.
Im Hof war es tatsächlich still bis auf ein Weihnachtslied von Bing Crosby, das aus einem nahen Lebensmittelkiosk drang. Riesige weiße Flocken fielen langsam herab, schon hatten sich dicke, watteweiche Schneehaufen gebildet, und der Himmel war in ein so unwirkliches, tiefblaues Licht getaucht, dass ich glaubte, einer meiner lustigen Kinderträume sei in Erfüllung gegangen und ich befände mich in einer dieser Kugeln mit idyllischer Winterlandschaft, in der, wenn man sie schüttelte, kleine Schaumstoffkügelchen herumwirbelten. Die Häuser rings umher sahen aus, als wären sie aus Pappmaché zusammengekleistert worden, und auch wenn der gute alte Crosby im alltäglichen Trubel des schmutzig grauen Moskaus mehr als nur ein Fremdkörper war, so klang doch sein klebrig süßer Song in dieser Zuckerbäckerstadt,
inmitten dieses Postkartenmotivs, unversehens wie eine Nationalhymne.
Es gibt kein schöneres Fest als Neujahr. Auch wenn manch einer es für ein bolschewistisches Ersatzweihnachten hält, muss ich sagen, dass mir das Surrogat weitaus besser gefällt als das Original. All diese Pseudotraditionen, diese sowjetischen Rituale, die die christlichen abgelöst haben, sind für mich kein bisschen abgeschmackt, sondern durch und durch sympathisch, ja sogar rührend - vielleicht weil ich selbst ein Kind jener Epoche bin. Das Gute am Neujahrsfest sind ja gerade die Sinnlosigkeit und der Verzicht auf jegliche Wurzeln, seien es ethnische oder religiöse. Es geht bei diesem Fest um nichts, und deshalb gehört es allen. An einen sinnlosen kalendarischen Termin gebunden, der weder historische noch moralische oder sonstige Bedeutung hat, kann es mit der gleichen Aufrichtigkeit von Orthodoxen und Buddhisten, von Russen und Tataren gefeiert werden. Dies ist der wahre Tag der Versöhnung zwischen den Kulturen und Völkern …
Ohne Rücksicht auf Verluste verpulverte ich den Inhalt meiner Brieftasche im nächsten Supermarkt und kehrte bepackt mit Lebensmitteltüten nach Hause zurück. Meine Wohnung war warm und gemütlich. Ich nahm ein Bad und machte mich daran, das Abendessen zuzubereiten. Im Radio gluckerte gedämpft etwas Amerikanisches aus den 40ern oder 50ern, Glenn Miller oder so.
Gleich morgen früh würde ich meine Übersetzung im Büro abgeben, dachte ich, während ich einen Schluck trockenen Weißwein nahm und mit großem Appetit meine Spaghetti alla carbonara in mich hineinzuschaufeln begann.
Es gab ohnehin keine weiteren Kapitel mehr, und selbst wenn, würde ich diesmal stark genug sein, um abzulehnen. Dann würde ich meine Studienfreunde anrufen - vielleicht würde mich ja doch noch einer zu sich einladen.
Am späten Abend las ich dann noch etwa eine halbe Stunde lang Der Meister und Margarita und versank schließlich in einem weihnachtlichen Schlaf, der leicht und warm war wie eine gut aufgeschüttelte Daunendecke.
Es war ein wunderbar ruhiger Abend gewesen.
Der letzte dieser Art in meinem Leben.
Es begann mit der Olympia. Diese makellose deutsche Maschine, die meiner Familie seit 1949 über drei Generationen hinweg klaglos gedient hatte (regelmäßiges Schmieren mit Maschinenöl sowie die Auswechslung abgenutzter Farbbänder nicht mit eingerechnet), war plötzlich nicht mehr zu verwenden. Es blieb mir nichts anderes übrig, als dieses Fünfzehn-Kilo-Ungetüm in aller Frühe in die einzige Werkstatt zu schleppen, die wie durch ein Wunder noch geöffnet hatte. Dort versicherte man mir, die Maschine in den nächsten Tagen reparieren zu können - ohne jedoch einen genauen Termin zu nennen. Allein für die Suche und Anfahrt zu der Reparaturwerkstatt war der halbe Tag draufgegangen, und nun konnte nicht mehr die Rede davon sein, mit irgendwelchen Freunden Silvester zu feiern.
Immerhin brauchte ich mir um meine Schreibmaschine keine Sorgen zu machen. Der Chef der Werkstatt, ein netter alter Mann in ölverschmiertem blauen Kittel, war derart um mich und Olympia bemüht, dass mir sogleich der alte sowjetische Begriff »technische Intelligenzija« in den Sinn
kam. Er strich
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