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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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krank. Und Walja hat es wohl auch vergessen, sie kommt nicht vorbei …«
    »Ist Ihre Frau denn nicht gestorben?«, fragte ich bestürzt.
    Der Alte verstummte und blickte mich verwirrt an. Er wollte den Mund öffnen, um etwas zu entgegnen, doch dann fiel ihm etwas ein, und er blieb einfach stehen. Seine herabhängende Unterlippe zitterte gekränkt. Er wandte sich ab, strich sich durchs Haar und steckte sich wieder eine Zigarette
an. Lange schwieg er, dann sagte er heiser: »Verzeihen Sie. Ich vergesse das manchmal.«
    Auf einmal kam mir ein verrückter Gedanke: War Walentina Anissimowa, die ja eigentlich schon vor zehn Jahren dem Fährmann Charon ihren Sold gezahlt hatte, vielleicht deshalb so plötzlich wiederauferstanden, weil ihr Mann mit seiner Einsamkeit nicht zurechtkam? Ich blickte den Alten an und begriff, dass diese Frage ihn noch mehr verletzen konnte, also schwieg ich.
     
    Ich hätte Knorosow auch gar nichts mehr fragen können, denn in diesem Augenblick geschah mit ihm etwas Furchtbares.
    Er verlor das Gleichgewicht, lehnte sich gegen die Wand und blickte sich erschrocken nach allen Seiten um. Dann erbleichte er und presste seinen Kopf mit solcher Kraft zusammen, als könne dieser jeden Augenblick zerplatzen. Er fiel auf die Knie und begann vor meinen Augen zuerst wächsern, dann durchsichtig zu werden, bis er sich fast in Luft auflöste.
    Im nächsten Moment begannen die Grundfesten des riesigen Gebäudes, in dem wir uns befanden, zu stöhnen und zu zittern, als ob sie auf seinen seltsamen Anfall reagierten. Die Erde fing an zu beben.
    Ich wollte dem Alten helfen, doch er jagte mich mit einer Handbewegung fort. Unschlüssig, wo ich Schutz suchen sollte, ließ ich ihn im Flur stehen und stürzte ins Zimmer zurück.
    Die Attacke, in der sich die Erde wand, war die stärkste von allen, die ich in diesen Tagen erlebt hatte. Der Boden
wackelte derart, dass ich mehrere Male hinfiel, mich zu erheben versuchte, nur um wieder auf allen vieren zu landen. Ich war nicht einmal für einen Sekundenbruchteil in der Lage, mich auf den Beinen halten. Doch der Elfenbeinturm, in dem sich Knorosows Mönchszelle befand, erwies sich als stabiler als jedes gewöhnliche Moskauer Gebäude. Die Wände und die Decke hielten dem Ansturm der Elemente stand, und das Licht erlosch nicht einmal für eine Sekunde. Ermutigt kroch ich zum Fenster und schob den Vorhang beiseite.
    Tief im Inneren war ich überzeugt, die Moskauer Straßen aus der Vogelperspektive zu erblicken oder aber ich würde mich im Weltraum befinden und dort glühende, Gas speiende Protuberanzen oder qualvoll kreisende Supernovae zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich begann ich in diesem Augenblick Knorosows Worten zu glauben, aber noch begriff ich seine Behauptung, er sei das Universum an sich, zu wörtlich.
    Was ich sah, war trotz all seiner Unmöglichkeit und gleichzeitigen Alltäglichkeit nur ein weiterer Beweis dafür, dass er Recht hatte.
    Entgegen allen Gesetzen des Raums und der Schwerkraft blickte ich durch das Fenster dieser Krankenklause von oben auf ein exakt identisch aussehendes Zimmer hinunter. Ich klammerte mich am Fensterbrett fest und sah durch eine unvorstellbar dünne Glasscheibe auf den siechen Körper eines alten Mannes hinab, der auf einem Bett ausgestreckt lag, eingesponnen in Dutzende Katheterschläuche, die ihn wie ein Netz parasitärer Schlingpflanzen umgaben. Ringsumher liefen eilig Frauen und Männer in weißen
Kitteln, hochmoderne medizinische Geräte schillerten bunt, und in den tiefgründigen Venen seiner knorrigen, gichtgeplagten Hände staken Kanülen wie Stacheln riesiger Insekten.
    Das war er. Der echte Juri Knorosow.
    Ein erneuter Schlag schleuderte mich zu Boden. Ich drückte mich vom Linoleumboden hoch und starrte auf das Mosaik der Fotos, das die Wände des Zimmers überwucherte. Die Bilder verschwammen vor meinen Augen: Knorosow mit der Besatzung seines geliebten La-5 , dann, später, beim zehnten, dreißigsten, fünfzigsten Jahrestag des Sieges mit seinen Mitarbeitern, ein mit jedem Jahr schwindender Kreis …
    Dutzende von Fotos mit seiner Frau, über die er so wortkarg, ja widerstrebend gesprochen hatte, doch die ihm sicherlich der teuerste Mensch im Leben gewesen war: die Hochzeit, der Urlaub auf der Krim, die gemeinsamen Reisen nach Lateinamerika, ein Kuss vor der Pyramide des Zauberers …
    Einige Gruppenbilder mit Menschen in altmodischen Anzügen und Trenchcoats, die undurchdringliche Mienen zur Schau trugen …
    Alte

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