Talivan (German Edition)
zog die junge Magd rasch mit sich aus der Kammer hinaus, nachdem sie in Windeseile ihren Geldbeutel u m gehängt, den Waffengurt angelegt hatte und in die Stiefel geschlüpft war, in denen sich je ein Dolch in einer ve r steckten Tasche ve r barg, mit einem Griff erreichbar. In ihrer Heimat hatte sie nie erlebt, dass Ungeübte zur Ve r teidigung einer Stadt oder gar eines Schlosses gerufen wurden, hier j e doch mochte jede Weigerung schlimmere Gefahren bergen als der Kampf selber. Auf dem Weg zur Waffenkammer b e gegnete ihnen auch Inwar, die nur mit Mühe den widerspenstigen Langbogen sowie ihren hal b vollen Köcher zu tragen vermochte. ‚Zu wenig Pfeile’, dachte Belsa, ‚und ausgerechnet Langbogen, die mehr Kraft und Geschick e r fordern, als selbst die meisten Krieger haben.’
Nach flüchtigem Gruß eilten sie in verschiedene Richtungen weiter, um sich kurz darauf auf der Mauer wiederz u finden, drei Mägde, die nur mit Mühe die Sehnen ihrer Bögen soweit spannen konnten, dass die Pfeile z u mindest ein Stück weit über die Mauer hinweg flogen und ohne Rü s tung oder Kettenhemd den Geschossen der an Zahl und Ausrüstung weit überlegenen Feinde, die sich bereits zum Sturm auf die Mauern vorbereiteten, hil f los ausgeliefert waren. Nach einigen Minuten hörte Belsa nur wenige M e ter neben sich einen erstickten Schrei, sah die ihr Unb e kannte mit vor Entsetzen geweiteten Augen den Pfeil in ihrer Brust u m klammern und langsam zu Boden sinken. Als die Schwertkämpferin zu der Frau trat, um deren kleinen Jagdbogen an sich zu nehmen, sah die Sterbende sie fl e henden Blickes an, bevor ihre Augen brachen. Eine eisige Hand griff nach dem Herz der Kriegerin. Stumm nahm sie ihren Platz neben Vinim und Inwar wieder ein, sah nicht deren besorgten Blic k wechsel, legte den ersten Pfeil auf die Sehne, zielte –
Sie hatte nur selten den Umgang mit Pfeil und Bogen g e übt, zu sehr war sie an den Schwertkampf gewöhnt g e wesen, den sie wahrlich meisterhaft beherrscht hatte, da ihre Flinkheit stets die fehlende Kraft ihrer Arme wet t gemacht hatte; mit den meisten Männern hatte sie sich messen kö n nen. Doch nun, vielleicht durch die Menge der gegnerischen Soldaten bedingt, die keinen erns t haften Widerstand erwarteten und deshalb vielleicht ihre Schilde ein wenig zu tief hielten, weshalb auch immer, die Schwertkämpf e rin traf. Der Mann sah verwundert zur Mauerkrone empor, ehe er zusamme n brach.
Belsa hörte das Blut in Ihrem Kopf rauschen, bevor sie sich leichenblass zur Seite drehte, auf die Knie sank und sich übergab, bis sie bittere Galle schmeckte.
„Ist es soweit? Ausgerechnet jetzt? Belsa, was …“
Vinims und Inwars Stimmen kamen nur gedämpft zu ihren Ohren, wie durch einen Schleier hindurch sah sie die ve r schwitzten, besorgten Gesichter der beiden Frauen. Das Kind in ihrem Leib lag still, als habe es durch die Augen seiner Mutter gesehen, was diese getan hatte; ohne nachz u denken, kauerte Belsa sich z u sammen, um es vor noch mehr Blut und Tod zu beschützen. Aus weiter Ferne drang eine andere, befehlsgewohnte Stimme zu ihr durch, feste Hände griffen sie und andere Frauen, trugen und stießen sie Treppen hinab, zerrten sie bis zu dem gewaltigen Tor des Schlosses, das den Rammböcken noch lange standhalten würde, noch so viel Zeit, das Blut so vieler zu vergießen, die sie einst Kameraden genannt, die sie nun als Freundi n nen gewonnen, zu viel Zeit, viel zu viel, sie musste …
Sie hörte Bruchstücke von Sätzen, die Stimme des A n führers, der den Ehrenkodex der Angreifer höhnisch b e lachte, nach dem sie keine U n bewaffneten töteten, schon gar keine Schwangeren, und der die Feinde, wenn sie auch das Tor durchbrechen könnten, au s reichend lange an dieser zweiten Mauer aus wehrlosen Frauen aufhalten musste, um der W a che ein wenig mehr Zeit zu geben, sich in das Innere des Schlosses zurückzuziehen; es würde eine lange Belagerung werden, klein genug war die Zahl der Höflinge und Sold a ten, um dem Hunger für einige Zeit trotzen zu können …
Der Mann wurde abrupt zum Schweigen gebracht, mit einem hässlichen Krachen prallte sein schon im Hina b fallen erschlaffender Körper von der Schlossmauer zurück. Nur wenige Soldaten weigerten sich zu fliehen, Vinim warf auch sie gegen die Mauer, weniger heftig zwar, doch reic h te es aus, auch diese Männer in die Flucht zu treiben; fast schien die junge Magd zu bedauern, sie verletzen zu mü s sen und doch, welche Wahl blieb ihr, die
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