Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
blauen Himmel; sie hatten guten Wind, der die weißen Segel blähte, und ihr Schiff führte die kleine Flotte in schneller Fahrt über die gischtgesprenkelte See.
»Der Käpten meint, daß wir gegen Mittag Miruscum passieren«, sagte Kalten. »Wir kommen schneller voran, als wir dachten.«
»Der Wind steht günstig.« Sperber nickte. »Wie geht's deinem Rücken?«
»Tut weh. Ich habe blaue Flecken von den Hüften bis zum Hals.«
»Jedenfalls kannst du wieder aufrecht stehen.«
Kalten brummelte. Schließlich sagte er: »Mirtai ist sehr direkt, nicht wahr? Ich weiß immer noch nicht so recht, was ich von ihr halten soll. Ich meine, wie sollen wir sie behandeln? Sie ist schließlich eine Frau.«
»Daß du das bemerkt hast!«
»Sehr komisch, Sperber! Aber kann man eine Frau wie Mirtai wirklich wie eine Frau behandeln? Sie ist so groß wie Ulath, und sie erwartet offenbar, daß wir sie als Waffenbruder akzeptieren.«
»Na und?«
»Das ist unnatürlich.«
»Behandle sie als Sonderfall, wie ich es tue. Das ist ungefährlicher, als mit ihr zu streiten. Darf ich dir einen Rat geben?«
»Das kommt auf den Rat an.«
»Mirtai hält es für ihre Pflicht, die Königsfamilie zu beschützen, und das schließt die Kammermaid meiner Frau ein. Ich kann dir nur empfehlen, dich zu zügeln. Wir begreifen Mirtai nicht völlig, deshalb wissen wir nicht, wie weit sie gehen würde. Selbst wenn Alean dich ermutigt, würde ich lieber die Hände von ihr lassen. Es könnte sich als sehr ungesund erweisen.«
»Das Mädchen mag mich«, protestierte Kalten. »Ich habe genug Erfahrung, das zu erkennen.«
»Das mag stimmen. Aber ich bin sicher, daß es Mirtai vollkommen egal ist. Tu mir einen Gefallen, Kalten. Laß das Mädchen in Ruhe.«
»Aber sie ist die einzige an Bord!« wandte Kalten ein.
»Du wirst es überleben.« Sperber drehte sich um und sah Patriarch Emban mit Botschafter Oscagne nahe dem Heck stehen. Sie waren ein eigenartiges Paar. Der Patriarch von Uzera hatte für die Seereise seine Soutane abgelegt und trug statt dessen ein braunes Wams über einem schlichten Gewand. Er war fast so breit wie groß und hatte ein rotes Gesicht. Oscagne dagegen war ein zierlicher Mann mit feinem Knochenbau und keinerlei Fett. Seine Haut war blaßbronzefarben. Aber die Männer waren verwandte Naturen. Beide waren leidenschaftliche Politiker. Sperber und Kalten schlenderten zu ihnen.
»Alle Macht kommt vom Thron in Tamuli, Eminenz«, erklärte Oscagne gerade. »Dort geschieht nichts ohne ausdrücklichen Befehl des Kaisers.«
»In Eosien delegieren wir die Dinge, Exzellenz«, erklärte Emban ihm seinerseits. »Wir wählen einen guten Mann aus, sagen ihm, was wir von ihm erwarten, und überlassen ihm die Erledigung der Aufgabe.«
»Das haben wir auch versucht. Aber in unserer Kultur funktioniert es nicht. Unsere Religion ist zu oberflächlich, als daß sie eine so tiefe persönliche Treue hervorbringen könnte wie die Eure.«
»Euer Kaiser muß alle Entscheidungen treffen?« fragte Emban ungläubig. »Woher nimmt er die Zeit dafür?«
Oscagne lächelte. »Nein, nein, Eminenz. Alltägliche Entscheidungen werden durch Gebräuche und Tradition bestimmt. Wir halten sehr viel auf Sitten und Gebräuche. Sobald aber ein Tamuli diese schützenden Pfade verläßt, muß er improvisieren, und das bringt ihn meist in Schwierigkeiten. Aus irgendeinem Grund werden seine Improvisationen immer von persönlichen Interessen diktiert. Jedenfalls haben wir festgestellt, daß man von solchen Ausflügen in den Bereich der freien Entscheidung abraten sollte. Der Definition nach ist unser Kaiser ohnehin allwissend. Also ist es wohl das beste, diese Dinge ihm zu überlassen.«
»Eine derart umfassende Definition ist nicht immer sehr genau, Exzellenz. ›Allwissend‹ kann vielerlei bedeuten, je nachdem, welche Person so bezeichnet wird. Wir haben selbst eine ähnliche Definition. Wir sagen, daß unser Erzprälat von der Stimme Gottes geleitet wird. Doch es gab im Lauf der Zeit manchen Erzprälaten, der nicht sehr auf Gottes Stimme hörte.«
»Ähnliche Erfahrung haben auch wir gemacht, Eminenz. Der Begriff ›allwissend‹ läßt sich offenbar sehr vielfältig deuten. Um ehrlich zu sein, mein Freund, wir hatten hin und wieder geistig äußerst beschränkte Kaiser. Zur Zeit haben wir allerdings Glück. Sarabian ist ein durchaus fähiger Herrscher.«
»Wie ist er denn so?« fragte Emban interessiert.
»Bedauerlicherweise ein Gefangener seines Amtes, ebensosehr
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