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The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)

The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)

Titel: The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shane O'Doherty
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sprach, nahm ich wegen meines intensiven Gefühlszustandes kaum noch etwas anderes wahr. Die beiden Männer mussten aber noch zwei andere Jugendliche „einschwören“ und hatten keine Zeit zu vertrödeln, während ich im Geiste in Ekstase schwebte. Ich begab mich also in die Küche und wartete, während die anderen den Treueeid leisteten. Anschließend wurden uns unterschiedliche Zeitpunkte angegeben, zu denen wir zurückkehren sollten, um zu erfahren, welchen Einheiten wir zugeteilt worden waren. Wir verließen das Haus, und ich trennte mich so schnell wie möglich von meinen Freunden, um endlich allein zu sein.
    Ich ging bewusst langsam nach Hause, damit ich die neue Existenz, die ich nun hatte, auskosten konnte. Alles hatte sich für mich radikal verändert. Alles, was ich in Zukunft tat, würde für die IRA und für Irlands Freiheit geschehen. Ich war nicht mehr nur ein ganz gewöhnlicher Teenager namens Shane Paul O’Doherty – ich war jetzt ein (wenn auch junger) Soldat im Dienste des Freiheitskampfs, ein geheimes Mitglied der IRA, die in der Vergangenheit den irischen Unabhängigkeitskrieg recht erfolgreich geführt hatte und gegenwärtig die Befreiung Nordirlands von der Herrschaft der Briten vorbereitete. Jetzt hatte ich die Möglichkeit, so zu werden wie die Patrioten, in deren Schriften ich mich ganz allein so oft hineinversenkt hatte und deren Leben solch eine große Wirkung auf die irische Nation gehabt hatte. Ich gehörte nun einer Organisation an, die es mir ermöglichte, so wie sie zu werden. Jetzt brauchte ich nur noch dermaßen eifrig meinen persönlichen Krieg auszutragen, dass meine Vorgesetzten meine bedingungslose Hingabe bemerken mussten. Während des Heimwegs war ich im Geiste bereits viel mehr als nur ein einfacher siebzehnjähriger Freiwilliger (der auch noch ein falsches Alter angegeben hatte); ich wurde bereits unter heldenhaften Umständen erschossen; ich saß vor Gericht auf der Anklagebank und hielt eine feurige, trotzige Rede gegen das Ausmaß der britischen Ungerechtigkeit; Mädchen weinten heiße Tränen ob meiner Leiden und Heldentaten ...
    In den darauf folgenden Tagen war ich der größten Versuchung meines Lebens ausgeliefert. Für einen Beobachter muss es wohl so ausgesehen haben, als quälte mich eine pubertäre oder postpubertäre innere Zerrissenheit, doch es hatte nichts mit Hormonen zu tun. Die Versuchung hatte mit der Heimlichkeit meiner neuen Persönlichkeit zu tun - ich musste meine Zugehörigkeit zur IRA ja verborgen halten. Der Schatten eines Geheimnisses ist immer eine undichte Stelle, oder zumindest das Risiko einer undichten Stelle, weil ich versucht war, mich mitzuteilen. Zwar wusste ich, dass ich jemand ganz Besonderes war, aber meine Aufregung, meine Freude und mein Glück waren so groß, dass ich das Gefühl hatte, ich müsse platzen, wenn ich es nicht jemanden sagen könnte. Dann wieder packten mich Schuldgefühle vor der Jury der über mir schwebenden Patrioten, weil ich in Gefahr war, den einzigen Trumpf gegenüber den Briten, den ich besaß, nämlich meine Anonymität, der billigen Befriedigung zu opfern, die ich empfunden hätte, wenn jemand anders mich bewundert hätte. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass meine Anonymität eine noch viel stärkere Schockwirkung hervorrufen würde, wenn meine wahre Identität eines Tages bekannt würde – man würde dann sagen: „Er ist ja mit uns zusammen aufgewachsen, und wir glaubten ihn zu kennen. Dabei war er die ganze Zeit ein wahrer Patriot!“ Es war also mein Schicksal, dass ich mich heimlich im Schatten eines Patrioten bewegen musste.
    Aber wie unerträglich langweilig war es doch, im Jahr 1970 ein neuer IRA-Freiwilliger zu sein! Da ich gleichzeitig mit zwei Jungen aus der überwiegend protestantischen Waterside-Gegend eingeschworen worden war, teilte man mich zuerst einer dortigen „Sektion“ zu, die sich ausschließlich mit Verteidigung befasste. Im Haus unseres Sektionsführers gab es endlose „Paraden“, bei denen man nichts anderes tat als auf Marschkommandos in irischer Sprache zu reagieren. Wir mussten stramm stehen, auf der Stelle wenden und locker stehen. Von der Clarendon Street bis zum anderen Ende der Waterside musste ich sehr lange laufen, und an frostigen, dunklen Abenden dauerte es noch länger. Deshalb deutete ich den Wunsch an, einer Einheit in meiner Nähe in der Bogside oder in Creggan zugeteilt zu werden. Nach längerer Zeit wurde mir gesagt, dass ich versetzt werden

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