Todestanz
war.
Ohne Notizen oder ein Pult als Schild stand sie auf der Bühne und lieà sich vom vertrauten Surren der Kameras beruhigen. Das in den Programmen blätternde oder Bonbons auspackende Publikum kam langsam zur Ruhe. Das leise Rascheln verhallte wie Regen auf Laub.
»Was ist es für ein Gefühl, von den Toten aufzuerstehen?«
Clare lieà die Frage über dem Publikum schweben, das in samtene Dunkelheit getaucht war.
»Bestimmt hat man auch Persephone, der Göttin des Frühlings, diese Frage gestellt, als sie in die Welt der Lebenden zurückkehren durfte. Persephone , das Ballett, das Sie heute Abend sehen werden, erzählt ihre Geschichte und die ihrer Mutter Demeter, die bittere Rache nimmt für Persephones Entführung durch Pluto, den König der Unterwelt. Demeter lässt die Erde veröden und das Land unter dem eisigen Hauch gefrieren, bis Pluto einwilligt, Persephone zurückkehren zu lassen, die daraufhin den Frühling mit sich bringt.«
Die Musiker setzten sich im Orchestergraben zurecht und verstummten wieder.
»Was ist es also für ein Gefühl, zurückzukehren?« Inzwischen hatten sich Clares Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Sie konnte in der Dunkelheit die Silhouetten der Sitze und die Köpfe ausmachen.
»Was ist es für ein Gefühl, zurückzukehren und feststellen zu müssen, dass man nicht mehr leben, nicht mehr lieben kann?«
Dunkelheit, bis auf einen einzelnen, auf sie gerichteten Scheinwerfer, der ihre Haut ausbleichte; die Calla in ihrer Hand hob sich leuchtend von ihrem schwarzen Kleid ab.
Clare drückte auf die Fernbedienung in ihrer Hand. Auf der Leinwand hinter ihr erschien eine Reihe von Gesichtern, zum Teil von Weihnachts- oder Ferienfotos abgenommen. Andere strahlten die gestellte Unschuld eines Schulfotos aus. Ein einziges professionelles Porträt eines rothaarigen Mädchens war darunter. Unter jedem Bild der Name, das Geburtsdatum, das Datum, an dem die Mädchen verschwunden waren und, falls man sie gefunden hatte, auch dieses Datum. Nur zwei hatten kein Kreuz neben ihrem Namen. Zwei waren lebend gefunden worden. Eher halbtot.
»Wir sind eine Nation von vermissten Mädchen.« An den Seitenaufgängen zur Bühne prüften die Tänzerinnen ihre Schuhe oder steckten lose Haarsträhnen fest.
»Aber heute Abend wollen wir all die Persephones feiern. Die Mädchen, die wir finden und dem dunklen Griff des Hades entreiÃen konnten. Genau wie Demeter, die am Ende ihre bezaubernde Tochter zurückbekam.«
Die Lichter gingen aus und tauchten das Theater in Dunkelheit. Clare ging von der Bühne und lieà sich, noch während der Applaus verebbte, auf ihrem Platz nieder.
Der Dirigent griff zum Stab, und das Orchester begann zu spielen, mit düsteren Celloklängen unter einer einzelnen, tief bewegenden Violine. Die Tänzerinnen schreckten mit flatternden Tüllröckchen auf wie Motten, die vom Licht angezogen werden. Dann das leise Rutschen der Spitzenschuhe, als sie ihre Positionen einnahmen.
Der Vorhang ging auf, und zum Vorschein kam das Ensemble, im Halbkreis um die dunkelhaarige Solistin positioniert, deren silbernes Tutu das Licht der Dämmerung einfing wie flieÃendes Wasser. Dann setzte die Melodie ein, ein
Chor morgendlichen Vogelgezwitschers, und die Solotänzerin begann sich zu bewegen.
Beatrice streckte die Hand aus und fing die Träne auf, die über Clares Wange glitt, dann kuschelte sie sich an ihre Tante, wie um sie mit ihrem kleinen Körper zu trösten, und war bald darauf eingeschlafen.
Dann glitten die Ballerinen in ihren frühlingshaft zartgrünen, gelben und blauen Kostümen zum ersten Akt auf die Bühne. Persephone schwebte wie ein weiÃer Schmetterling ins Bühnenzentrum. Unter den Tänzerinnen tat sich ein schwindelerregender Abgrund auf. Von ihrem Tanz aus dem Schlaf gerissen, regten sich Pluto und seine Handlanger in der Tiefe und begannen aus dem Hades zu steigen.
»Du warst phantastisch.« Giles Reids Atem strich genauso warm über Clares Ohr, wie seine Hand auf ihrem Knie lag. Sie schlug die Beine übereinander, winkelte sie von ihm weggewandt ab und verfluchte sich dafür, dass sie mit ihm geschlafen hatte.
Zehn
Rita Mkhizes Büro hatte sich zum inoffiziellen Zentrum für die Suche nach Yasmin Faizal entwickelt. Der Raum war eher hoch als breit. Er hatte als Lagerraum gedient, bis Rita ihn
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