Todtstelzers Krieg
Präsenz wurde überwältigend, erfüllte den Raum und
dröhnte in der Luft wie der Herzschlag eines Riesen. Topas
und Marie wichen zurück, und die Hand des Investigators fiel
automatisch auf den Griff der Klinge an ihrer Hüfte. Johanas
ESP peitschte in die Bewußtseine von Topas und Marie und riß
ihre Abwehr mit beiläufiger Leichtigkeit ein. Nackt standen die
beiden vor ihr, ohne jeden Schutz. Johana hätte alles mit ihnen
machen können; sie hätten ihr alles geglaubt und alles gesagt,
was sie wollte, und beide wußten sie es. Doch statt dessen öffnete sie ihnen ihr eigenes Bewußtsein, zeigte ihnen ihr eigenes
Leid während der Zeit in der Hölle des Wurmwächters, alles
innerhalb eines einzigen Augenblicks komprimierter lebendig
gewordener Hölle.
Sie waren dabei, als der Wurm sich in Johanas Gehirn fraß.
Sie waren dabei, als er die Kontrolle über jede ihrer Regungen
und jeden Gedanken übernahm. Sie waren dabei, als sie zusammengerollt und nackt auf dem Boden ihrer Zelle lag. Sie
erlebten, wie Johana zitterte und bebte, umgeben vom Gestank
des eigenen Urins und Kots und Erbrochenen. Ihre Zelle war
nur wenig größer als ein Sarg, mit glatten stählernen Wänden
und einer Decke, die zu niedrig war, um mehr als nur zu knien
oder zu kriechen. Kaum jemals fiel ein Lichtstrahl hinein, und
es gab nichts als beinahe endlose Dunkelheit und den Wurm,
der sich in Johanas Bewußtsein eingenistet hatte und sie mit
den endlosen Alpträumen der projizierten Halluzinationen und
Wahnvorstellungen des Wurmwächters überschüttete. Sie verlor ihre Stimme in Silo Neun, während sie um eine Hilfe schrie,
die niemals kam, oder während sie einfach nur darum flehte,
daß der Schmerz und das Entsetzen und das Leiden endlich
aufhören mochten.
Und dann geschah das Wunder. Mater Mundi, die Weltenmutter, kam zu ihr. Unsere Mutter Aller Seelen entfaltete sich
in Johana Wahns Bewußtsein wie ein strahlend schöner
Schmetterling, der einer häßlichen Raupe entschlüpft, und von
dort aus breitete sie sich aus und umfing jeden einzelnen Esper
in der Hölle des Wurmwächters, verband sie zu einer einzigen
unaufhaltsamen Macht, einer Klinge, die mitten durch das
Herz des Wurmwächters selbst fuhr. Das Geistwesen konnte
nicht lange existieren, ohne die Seelen aller beteiligten Esper
zu verbrennen, doch für einen einzigen flüchtigen Augenblick
war jeder von ihnen großartiger, als es die gesamte Menschheit jemals gewesen war – und mächtiger. Und all diese Macht
fokussierte sich in der Gestalt Johana Wahns.
Nur, daß Johana Wahn nicht ihr wirklicher Name war. Sie
war einst jemand anderes gewesen, eine Agentin des Untergrunds, die sich freiwillig gemeldet hatte und unter falscher
Identität in die Hölle des Wurmwächters in Silo Neun geschickt worden war, um Informationen über mögliche Fluchtwege aus dem Gefängnis zu sammeln. Ihr ursprüngliches
Selbst und ihre frühere Identität waren verschwunden, erloschen und vernichtet durch Johana Wahn, die von Großartigkeit berührt worden war und deren ESP eine Macht erreicht
hatte, die schier unglaublich schien. Johana Wahn, die Repräsentantin Mater Mundis, die einst jemand anderes gewesen
war.
Die Projektion fiel in sich zusammen, als die verschiedenen
Seelen in ihr gegeneinander kämpften und kreischten und Johanas Bewußtsein umflatterten wie Motten das Licht, wider
alle Vernunft von etwas angezogen, das sie am Ende doch nur
zerstören konnte. Johana Wahn, die so viel mehr und doch zugleich soviel weniger war wie einst.
Johana fiel in sich selbst zurück und fiel und fiel und fiel und
schlang die Arme um den Leib aus Angst, sich aufzulösen.
Tränen brannten in ihren Augen, und nur schiere Willenskraft
hielt sie zurück. Tränen der Erinnerung an etwas Großartiges
und Wunderbares, etwas, das die unscheinbare Johana Wahn
berührt und verändert und dann wieder verlassen hatte.
Marie trat vor und legte den Arm um Johanas zitternde
Schulter. »Alles wird gut. Wir haben verstanden. Wir werden
mit unseren Führern sprechen. Sie müssen dich anhören, auch
wenn sie das zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht noch nicht wissen. Bleib hier. Wir werden die Dinge in Bewegung bringen.«
Sie drückte Johana ein letztes Mal tröstend an die Brust und
bedeutete Topas mit einer Kopfbewegung, die Tür zu öffnen.
Topas gehorchte mit unbewegter Miene. Anschließend führte
Marie Johana zu ihrem Sessel zurück, dann verließ sie zusammen mit Topas das
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